Die Geschichte des Judentums in Oldenburg spiegelt sich auch in den Namen einiger Straßen wider. In der Stadt gibt es heute eine Reihe von Straßennamen, die an Menschen jüdischer Herkunft oder die jüdische Geschichte erinnern. Jeder dieser Straßennamen ist ein Zeichen der Erinnerung an herausragende Juden und jüdische Familien, die mit Oldenburg verbunden waren. Sie zeugen auch davon, wie die Stadt nach dem Holocaust ihre scheinbar für immer verlorene Geschichte Stück für Stück zurückerobert. Im ersten Teil dieser Essayreihe haben wir über die nach dem letzten vor dem Krieg amtierenden Rabbiner von Oldenburg, Professor Leo Trepp, benannte Straße berichtet und seinen Lebensweg beleuchtet. Im zweiten Teil geht es um eine Straße in Oldenburg, die nach dem Unternehmer Adolf Daniel de Beer benannt wurde. Er war der letzte Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Oldenburgs vor dem Krieg und erlebte ein schwieriges Schicksal.
Adolf Daniel de Beer wurde am 29. April 1877 in Emden als Sohn einer Familie von Landbesitzern und Viehzüchtern jüdischen Glaubens geboren. Über seine Ausbildung und seinen beruflichen Werdegang ist wenig bekannt. Adolfs Frau Mathilde, geborene Schoenpfleg, kam am 14. März 1876 in Salzvedel (Sachsen-Anhalt) zur Welt. Damit sie Adolf heiraten konnte, konvertierte die von Geburt an christliche Mathilde zum Judentum. Die junge Familie ließ sich in Oldenburg nieder. Sie vertraten liberale Ansichten und feierten beispielsweise auch christliche Feiertage wie Weihnachten und Ostern im Kreise ihrer Freunde.


Adolf stieg in das Wäschereigeschäft ein und wurde Geschäftsführer der Wäscherei „Edelweiß“. Während seiner Tätigkeit in diesem Unternehmen wurde er bei der Großen Staatsausstellung für Industrie und Handel im Jahr 1905 mit einer Goldmedaille sowie einem „Anerkennungsdiplom für Mitarbeiter und Servicepersonal” ausgezeichnet. Kurz darauf machte er sich mit der Dampflavanderie „Reingold” im Oldenburger Stadtteil Omsted selbstständig. Es war die erste Wäscherei dieser Art in der Stadt.
Zunächst mietete Adolf ein Grundstück der ehemaligen Wurstfabrik am Hochheider Weg 3, das später in seinen Besitz überging. Er baute die Wäscherei schnell aus und stattete sie mit modernen, elektrischen Maschinen aus, um seinen Kunden maximalen Komfort zu bieten. Die Dampflauerei „Reingold” war bald mit Aufträgen überlastet und eröffnete mehrere Filialen und Wäscheausgabestellen in Ostfriesland, also außerhalb der Region Oldenburg. Zu den Kunden zählten vor allem Hotels, Restaurants und Kasinos, aber auch private Haushalte. Die Popularität der Dampfwäscherei stieg in sehr kurzer Zeit so stark an, dass Adolf de Beer in der Weihnachtszeit 1908 eine Anzeige in der Zeitung Stadt- und Dorfnachrichten schaltete, um die Aufregung zu dämpfen.




Mathilde unterstützte ihren Mann im Geschäft und kümmerte sich gleichzeitig um die Familie und den Haushalt. Das Ehepaar de Bir hatte vier Kinder: die älteste Tochter Hilde, geboren 1901, sowie die Kinder Erich und Charlotte, geboren 1906, und Ilse. Die Kinder hatten eine unbeschwerte Kindheit. Neben der Schule und dem Sonntagsunterricht in der Synagoge waren alle sportbegeistert: Erich boxte im Turnverein „Jahn“, Hilde betrieb Leichtathletik im Sportverein VfB und Charlotte sowie Ilse nahmen an Turnwettbewerben im Sportverein OTB teil. Außerdem waren sie alle Mitglieder im Schwimmverein. Auch ihre Eltern waren in zahlreichen Vereinen und Organisationen aktiv: Matilda spielte in Theateraufführungen auf Plattdeutsch mit. Adolf de Beer war nicht nur ein begeisterter Vogelzüchter und Mitglied des Vogelzüchterverbandes, sondern betrieb auch Gymnastik im Sportverein OTB. Er trat der Deutschen Demokratischen Partei bei und engagierte sich aktiv im Deutschen Roten Kreuz. Für sein Engagement wurde er 1916 sogar von Kaiser Wilhelm ausgezeichnet.




Die beiden jüngeren Töchter der Familie de Beer waren im Familienunternehmen tätig. Ilse leitete die Wäscherei in der Staulinie 20 und Charlotte die Bügelstube am Julius-Mosen-Platz 1. Erich sollte offenbar die Leitung der gesamten Wäscherei übernehmen, denn in den 1930er Jahren wurde der Name des Unternehmens um das Wort „Sohn” ergänzt: „Adolf de Beer und Sohn”. Doch dazu kam es nie. Kurz nach der Machtergreifung der NSDAP im April 1933 begann der Boykott jüdischer Geschäfte und Unternehmen. SA-Kämpfer besetzten auch die Filialen von „Reingold” und versuchten, den Kunden den Zugang zu versperren. Anfangs konnten die de Beers noch auf ihre Stammkundschaft zählen, doch unter dem wachsenden Druck der Nationalsozialisten wurden die Aufträge immer weniger.


Um den Boykott zu verhindern, verzichtete Adolf de Beer am 12. Oktober 1934 auf die Registrierung seiner Wäscherei „Reingold – Adolf de Beer and Son”. Noch am selben Tag eröffnete seine Frau Mathilde, die von den Nationalsozialisten als „Arierin” eingestuft wurde, unter derselben Adresse die Wäscherei und Bügelstube „Reingold”. Dieser Trick hielt jedoch nicht lange. Im Jahr 1936 wurden alle Filialen der Wäscherei entweder geschlossen oder „arisiert”. Adolf de Beer gelang es zunächst, die Hauptfiliale vorübergehend zu vermieten, um wenigstens etwas Geld zu verdienen. Später musste er sie jedoch zwangsweise verkaufen.
Nachdem den jüdischen Gemeinden verboten worden war, Körperschaften des öffentlichen Rechts zu sein, wurde Adolf 1938 Vorsitzender der Jüdischen Religionsgemeinschaft und damit auch der Oldenburger Synagogengemeinde. Zwischen dem patriotischen Vater und den Kindern, die versuchten, ihre Eltern zur Flucht zu überreden, kam es zu einem Streit. Hilde nutzte 1935 die Gelegenheit und floh nach Palästina, zwei Jahre später folgte ihr ihre Tochter Hedwig. Die Freude über die erfolgreiche Emigration währte jedoch nicht lange, denn Hilde starb 1940 an einer Infektion. 1937 folgte Erich illegal auf einem Viehtransportwagen seiner Schwester nach Palästina, um der Gestapo zu entkommen. Dort meldete er sich mit Beginn des Krieges freiwillig zur britischen Armee. Während seines Dienstes in Griechenland wurde er von den Deutschen gefangen genommen und in ein Kriegsgefangenenlager in Schlesien gebracht. Er überlebte die Gefangenschaft und kehrte nach dem Krieg über England nach Palästina zurück. Dort gründete er zusammen mit anderen Juden eine Siedlung, in der er mit seiner Familie lebte. Er starb im Jahr 1977.
Ilse verließ das elterliche Haus, nachdem sie Hermann Hirsch geheiratet hatte, und zog mit ihm nach Niederschlesien.
1943 wurden die beiden verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Kurz darauf wurde Ilse in das Konzentrationslager Ravensbrück verlegt, wo sie 1944 ums Leben kam. Charlotte blieb bis 1939 bei ihren Eltern in Oldenburg. Ihre Hochzeit mit Herbert Seligmann im Juli 1938 war die letzte, die in der Oldenburger Synagoge in der Peterstraße stattfand. Diese wurde in der Reichspogromnacht zerstört. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde Charlotte Zeugin der Brandstiftung in dieser Synagoge. Dabei wurden alle jüdischen Männer verhaftet, darunter ihr Ehemann Herbert und ihr Vater Adolf. Beide wurden zusammen mit 30 anderen Juden aus Oldenburg für kurze Zeit im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert.


Trotz der Kommunikationsschwierigkeiten hielten alle Kinder der getrennten Familie den Kontakt zu ihren Eltern durch Briefe aufrecht. Drei von ihnen emigrierten; die Tochter Ilse kam in einem Konzentrationslager ums Leben. Adolfs Bruder starb 1943 in Theresienstadt.
Adolf de Beer musste 1940 in ein sogenanntes „Judenhaus” in Hamburg ziehen und dort Zwangsarbeit leisten. Seine Frau Mathilde hatte die Wahl: Wenn sie in Oldenburg blieb, würde ihr Mann von Hamburg aus in ein Konzentrationslager deportiert werden. 1942 ließ sie alles zurück und folgte ihm nach Hamburg. Dank ihrer „privilegierten Mischehe” überlebten beide den Krieg und konnten nach Oldenburg zurückkehren. Unmittelbar danach versuchten Adolf de Beer und der ebenfalls überlebende Ernst Löwenstein im Jahr 1945, die jüdische Gemeinde in Oldenburg unter dem Namen „Jüdische Kultusvereinigung Oldenburg e. V.” (Jüdische Religionsgemeinschaft Oldenburg) wiederzubeleben. Diese war seit 1939 unter diesem Namen im Vereinsregister von Oldenburg eingetragen. In den 1950er Jahren leitete Adolf de Beer eine Gruppe in der medizinischen Abteilung des Deutschen Roten Kreuzes in Oldenburg. Er starb am 6. September 1955 in Oldenburg und wurde auf dem jüdischen Friedhof in der Dedestraße beigesetzt. „Er widmete sich den Interessen der Gemeinde. Er war wie ein Vater für die Gemeindemitglieder”, hieß es in seinem Nachruf. Adolfs Frau Mathilde starb am 11. Oktober 1957 in Hannover.
Unmittelbar nach seiner Befreiung aus dem KZ Sachsenhausen Ende 1938 organisierte Herbert Seligmann gemeinsam mit Charlotte seine Flucht. Im Frühjahr 1939 gelangten sie nach Uruguay. Charlotte bewahrte ihren „jüdischen” Personalausweis, auf dem der Buchstabe „J” vermerkt war, sowie ihre persönlichen Daten, ein Foto und Stempel als historisches Dokument auf. Mit diesem Dokument floh sie nach Südamerika. Dort überlebten sie und ihr Mann den Krieg. Herbert starb 1951, woraufhin Charlotte zu ihren Eltern nach Oldenburg zurückkehrte. Nach dem Tod ihrer Eltern zog sie nach München. Nach dem Tod ihres damaligen Partners im Jahr 1989 kehrte sie in ihre Heimatstadt Oldenburg zurück und zog in eine Wohnung am Hochheider Weg. Sie war eine der Gründerinnen der wiederbelebten Jüdischen Gemeinde Oldenburg, deren Organisationsprotokoll vom 6. August 1992 ihre Unterschrift als Dritte trägt. Charlotte Seligmann besuchte die Gemeinde oft und interessierte sich sehr für das Gemeindeleben. Sie starb im Jahr 2000 im Alter von 93 Jahren und wurde neben dem Grab ihres Vaters Adolf de Beer auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Oldenburg beigesetzt.



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Die Dampfwäscherei „Reingold” überstand nicht nur den Krieg unter ihrem neuen Besitzer, sondern existierte sogar noch in den 1980er Jahren. Das Gebäude am Hochheider Weg 3, in dem sie sich befand, ist heute nicht mehr erhalten. Alle Gebäude auf dem Grundstück wurden abgerissen, um Platz für einen Neubau zu schaffen. Die Wäscherei „Reingold” fehlt heute im Stadtbild. An ihrer Stelle steht nun ein Gebäude mit einem REWE-Supermarkt. Die Einwohner Oldenburgs ehren jedoch das Andenken ihres Landsmanns: Eine der Straßen im Stadtteil Etzhorn, unweit des Hochheider Wegs, ist nach ihm benannt – die Adolf-de-Beer-Straße. So wird die Erinnerung an den ehemaligen Besitzer der Wäscherei und Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Oldenburgs aus der Vorkriegszeit verewigt.
Autor: Yakub Zair-Bek
Es wurden Fotos aus frei zugänglichen Quellen, aus dem Archiv des Autors und von @DerShlikh-DerBote verwendet.



