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Alina Treiger – unsere Rabbinerin

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    Erstveröffentlichung im Monatsblatt „My America“, 14.06.2024, Starrett-Sity, Brooklyn, NY. Der Link zur Originalveröffentlichung.

    Auf unseren Seiten wurde bereits über eine Frau mit einem ungewöhnlichen Schicksal berichtet – die Rabbinerin von zwei jüdischen Gemeinden im Norden Deutschlands, Alina Treiger (siehe vorherigen Artikel). In diesem Jahr jährt sich ihre Ordination zur Rabbinerin zum vierzehnten Mal, und ebenso lange arbeitet sie in den jüdischen Gemeinden von Oldenburg und der nahegelegenen Stadt Delmenhorst. Alina Treiger ist die erste Frau, die nach dem Holocaust in Deutschland den Titel einer Rabbinerin erhielt: Fünf Jahre lang studierte sie am bekannten „Kaderschmiede für Rabbiner“ – dem Abraham Geiger Kolleg in Potsdam. Die historische Verbindung von Alina Treiger zur ersten Rabbinerin in Deutschland, Regina Jonas, die 1944 tragisch in Auschwitz ums Leben kam, verleiht der Tatsache, dass Alinf ebenfalls die erste war, jedoch in einer etwas anderen Hinsicht, noch größere Bedeutung.

    Während ihres Studiums am Kolleg absolvierte Alinа Treiger ein Praktikum in der Jüdischen Gemeinde Oldenburg. Sie lernte die Stadt, das Leben der Gemeinde, ihre Mitglieder sowie die Person kennen, die an der Wiedergründung der Gemeinde beteiligt war und langjährige Vorsitzende war: die legendäre Sara-Ruth Schumann, die Alinа auch zur Arbeit in der Gemeinde einlud. Im Jahr 2010 wurde sie zur Rabbinerin ordiniert und seit November desselben Jahres bekleidet sie das Amt der Rabbinerin von Oldenburg und Delmenhorst. Natürlich ist eine Frau als Rabbinerin im orthodoxen Judentum undenkbar, da die Verleihung der Smicha, also des Dokuments, das die Verleihung des Rabbi-Titels bestätigt, sowie der Umfang seiner Aufgaben und Befugnisse nur im sogenannten liberalen oder progressiven Judentum möglich ist.

    Seitdem sind 14 Jahre vergangen, viel Wasser ist seitdem im Fluss Hunte, einem Nebenfluss der Weser, der seine Wasser in die Nordsee trägt, geflossen. Vieles hat sich in dieser Zeit auch in der Jüdischen Gemeinde Oldenburg ereignet. Es genügt zu sagen, dass in diesen Jahren das Gemeindevorstand mehrmals erneuert wurde. Im Jahr 2012 verstarb Sara-Ruth Schumann nach einer schweren Krankheit, und seitdem hat bereits der dritte Vorsitzende den Vorstand übernommen. Doch all die Jahre stand Rabbinerin Alina Treiger unermüdlich hinter der Bima (dem Ort für das Lesen der Tora) im Gebetsraum der Oldenburger Synagoge, leitete die Schabbate und jüdischen Feiertage, die Bar- und Bat-Mitzwas unserer Kinder und Enkel, Hochzeiten nach jüdischem Brauch (Chuppa) und vieles mehr.

    Aufgrund ihres toleranten, kontaktfreudigen und konfliktfreien Charakters findet Alina leicht einen gemeinsamen Nenner mit den Mitgliedern der Gemeinde, unabhängig von ihrem Alter und Herkunftsland. Es ist von großer Bedeutung, dass Alina nicht nur Russisch und Ukrainisch, sondern auch Deutsch, Englisch und Hebräisch beherrscht. Als unbestrittene Gelehrte im Bereich des Judentums und der jüdischen Tradition zeigt sie zudem hervorragende Fähigkeiten im Umgang mit Menschen und darin, in den schwierigsten Situationen Lösungen zu finden.

    Da sie gut versteht, dass die Gemeinde ohne Verjüngung und ohne den Zustrom neuer Mitglieder keine Zukunft hat, widmet Rabbinerin Treiger der Arbeit mit Kindern von klein auf besondere Aufmerksamkeit. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Vorbereitung von Jungen und Mädchen auf die Bar- und Bat-Mizwa. Diese Arbeit führt Alina mit besonderer Sorgfalt, Geduld und Methodik durch, um die heranwachsenden Kinder auf den wichtigen Tag in ihrem Leben – das Erreichen der religiösen Volljährigkeit – vorzubereiten, und zeigt dabei hervorragende pädagogische Fähigkeiten. Daher äußerten die Eltern der Kinder und Enkel, die den Bar- und Bat-Mizwa-Ritus durchlaufen, sowie die einfachen Mitglieder der Gemeinde ihre aufrichtige Dankbarkeit gegenüber Rabbinerin Alina Treiger, die mit ihrem einzigartigen Talent die besten Qualitäten in jedem Kind zu erkennen und neue Impulse für deren Entwicklung zu geben vermochte. Sie unterstützte die Kinder und betonte ihr nachdenkliches Verhältnis zum Wort und zur Religion.

    Vor zwei Jahren wurde in der Stadt das 30-jährige Jubiläum der Wiedergründung der Jüdischen Gemeinde Oldenburg gefeiert. Zu diesem Jubiläum erwarben die Stadtbehörden eine Torarolle und übergaben sie der Gemeindeleitung und Rabbinerin Treiger. An dem feierlichen Umzug mit der Torarolle auf dem Weg zur Synagoge nahmen mehrere Dutzend Personen teil, darunter Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Oldenburg und deren Gäste aus anderen Städten. Während dieses Umzugs erklangen bekannte jüdische Melodien und es wurden traditionelle Lieder gesungen, die die Tora und den Schöpfer preisen. Dies wurde meisterhaft von Rabbinerin Alina Treiger geleitet. Der feierliche Umzug endete vor dem Synagogengebäude in der Leo-Trepp-Straße, benannt nach dem letzten Rabbiner der Vorkriegsgemeinde Oldenburgs, woraufhin die Torarolle in die Synagoge gebracht wurde.

    Die Zeremonie des Schreibens der letzten Buchstaben in der Torarolle fand im Gebetsraum der Synagoge unter Beteiligung von Gemeindemitgliedern und Ehrengästen der Feier statt. Viele von ihnen konnten zum ersten Mal das wichtige Gebot der Tora erfüllen, indem sie scheinbar eigenhändig mit einer Gänsefeder und spezieller Tinte die letzten Buchstaben auf dem Pergament der Rolle eintrugen. Diese Zeremonie wurde sehr feierlich von dem speziell aus Hannover eingeladenen Rabbiner und Sofer (Tora-Schreiber) Alexander Hoffmann durchgeführt.

    Wenn man über Alina Treiger spricht, darf man eine weitere Seite ihrer Tätigkeit nicht unerwähnt lassen, die für die Arbeit einer Rabbinerin eher ungewöhnlich ist. Dank ihrer guten musikalischen Ausbildung (Musikschule im Fach Klavier und Musikhochschule im Fach Chorgesang) und ihrer sehr schönen Stimmfarbe singt Alina nicht nur hervorragend während der Gottesdienste, sondern hat auch den Gemeindechores „Kol ha-Neschama“ („Stimme der Seele“) gegründet, dessen Auftritte stets großen Erfolg haben. So fand während der Woche der jüdischen Kultur in Oldenburg ein Konzert mit synagogaler und jüdischer Volksmusik statt, das vom Chor unter der Leitung von Alina Treiger aufgeführt wurde. Es war ein nicht ganz gewöhnlicher Auftritt: Dieses Mal wurde dem zahlreich erschienenen Publikum eine Theatershow mit interessanten Einfällen und Neuheiten präsentiert: die schönen Kostüme der Chormitglieder – weiße Blusen mit blauen Schals oder Krawatten in den Farben der israelischen Flagge, mehrere Konzertmoderatoren, die sich abwechselten, und das fantastische Flackern von Feuer beim letzten Programmpunkt sowie vieles mehr. Die Zuschauer belohnten die Chormitglieder großzügig mit herzlichem Applaus, und jeder von ihnen erhielt Blumen.

    Mehrmals nahm das Kinderteam „Malachim“ („Engel“) unter der Leitung von Alina Treiger am jährlichen Jugendwettbewerb für jüdischen Gesang und Tanz „Jewrovision“ teil. An diesen Wettbewerben nehmen gut vorbereitete Jugendgruppen aus ganz Deutschland teil, darunter auch aus den größten jüdischen Gemeinden. Daher muss das Leistungsniveau fast professionell sein, denn die Auftritte finden auf einer großen Bühne vor Tausenden von Zuschauern und im Fernsehen statt. Alle gaben ihr Bestes, aber der Hauptenthusiast und Organisator, Gesangs- und Tanzlehrer, Psychologe des Teams sowie die gütige, verständnisvolle und immer unterstützende „Mama“ für die Kinder war immer Alina. Sie inspirierte, beruhigte, suchte und fand Lösungen für jede schwierige Situation. Und obwohl das Team „Malachim“ keine Preise gewann, übertraf es viele „Meister“, sodass alle sowohl mit ihrem Auftritt als auch mit der gestärkten Freundschaft unter den Kindern und den Erwachsenen, die ihnen halfen, zufrieden waren.

    In letzter Zeit wurde unter der Leitung von Rabbinerin Alina Treiger ein Musikprojekt für Kinder im Alter von drei bis zehn Jahren namens „Shabbes Jam“ umgesetzt. Bei der Arbeit mit dieser Gruppe wurde Rabbinerin Treiger von der professionellen Pianistin und Geigerin Anna Grek, einer Geflüchteten aus der Ukraine, unterstützt. In dieser Gruppe lernen und singen die Kinder Lieder auf Jiddisch, Hebräisch und Ukrainisch. Der Kinderchor trat hervorragend bei den Feiern zu Tu Bi-Schwat, Purim und Chanukka auf und erfreute die Gäste mit wunderbaren Darbietungen jüdischer Lieder.

    Kürzlich hat Alina erfolgreich eine weitere Ausbildung abgeschlossen und ihren Diplom als Kantorin erhalten. Somit hat die Gemeinde jetzt sowohl eine Rabbinerin als auch eine Kantorin in einer Person…

    Bei der Vorbereitung dieses Artikels bat ich Rabbinerin Alina Treiger, einige Worte an unseren Leser zu richten. Hier ist, was sie sagte: „In jüngster Zeit gab es in unserer Gemeinde viele Turbulenzen, die dazu geführt haben, dass einige unserer Leute nicht mehr zu uns kommen. Ich möchte mich direkt an sie sowie an andere Juden wenden. Die jüdische Gemeinde und der gesamte jüdische Volk sind eine große Familie, Bnei Yisrael. Natürlich sind wir alle sehr verschieden und in allen Familien gibt es Konflikte. Aber es gibt etwas, das uns alle vereint, und das ist die Liebe zu Israel und seinem Volk. Grundlose Feindseligkeit hat bereits viel in unserer gemeinsamen jüdischen Geschichte zerstört. Lassen Sie uns gegenseitig nachsichtiger sein, einander für Fehler vergeben und zusammenhalten.“ Ein ausgezeichneter Wunsch!

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    Als die Vorbereitung dieses Essays fast abgeschlossen war, verbreitete sich in der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg eine unangenehme Nachricht über angeblich Alinas möglichen Rückzug aus ihrer Arbeit in der Gemeinde. Mit einem möglichen Weggang dieser außergewöhnlichen Frau hätte die Gemeinde nicht nur ihre spirituelle Führungskraft verloren, die 14 Jahre ihres Lebens dem Aufbau und der Förderung der Gemeinde gewidmet hat, sondern auch eine wunderbare Person, die vielen Mitgliedern der Gemeinde, ihren Kindern und Enkeln Freund, Ratgeber und Erzieher geworden ist. Ich denke, dass unsere Leser sich den aufrichtigen Bedauern über den möglichen Rücktritt von Rabbinerin Alina anschließen werden. Gleichzeitig wünschen wir ihr Gesundheit und Erfolg in ihrer zukünftigen Arbeit zum Wohl unserer oder einer anderen jüdischen Gemeinde.

    Autor: Yakub Zair-Bek
    Fotos aus den Archiven des Autors, Rabbi Treyger und @DerShlikh-DerBote
    Quelle: Print-Ausgabe „My America“, 14.06.2024, Starrett-Sity, Brooklyn, NY

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