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Juden auf den Leinwänden von Valentin Serov

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    Vor nicht allzu langer Zeit fand in der Tretjakow-Galerie in Moskau eine grandiose Ausstellung statt, die dem 150. Geburtstag des Meisters des psychologischen Porträts, Valentin Serov, gewidmet war. Auf dem Vernissage wurden 250 Werke des Malers präsentiert, darunter Gemälde aus 25 russischen sowie vier ausländischen Museen und privaten Sammlungen. Diese Ausstellung löste eine beispiellose Begeisterung aus: riesige Schlangen bei frostigem Wetter, Gedränge am Museumseingang… Diejenigen, die mit im Voraus gekauften Tickets aus dem Internet zur Ausstellung gelangen wollten, gerieten in eine Rangelei und brachen die Tür auf… Diese Berichte scheinen überhaupt nicht aus der Museumsgeschichte zu stammen: Eine Gemäldeausstellung ist ja nicht wie ein Konzert einer Rockband oder das Auftreten von Pop-Idolen. Nach Aussage der Organisatoren wurde diese Ausstellung zum meistbesuchten Vernissage in der Geschichte der UdSSR und des heutigen Russlands. Doch nur wenigen Besuchern der Ausstellung war wohl bekannt, wer genau auf den zahlreichen Leinwänden des Künstlers abgebildet ist. Dort befindet sich eine ganze Galerie zeitgenössischer Porträts, einschließlich solcher von Juden.

    Valentin Serov hatte jüdische Wurzeln nicht nur väterlicherseits, was allgemein bekannt ist, sondern auch mütterlicherseits. Der zu seiner Zeit populäre Komponist Alexander Serov war der Enkel eines getauften Juden, des aus Königsberg stammenden Karl Habelitz, der als Kind mit seinen Eltern aus Ostpreußen nach Russland zog. Das herausragendste Werk seines Enkels, des Komponisten Alexander Serov, gilt als die Oper „Judit“, deren Premiere 1863 im Mariinski-Theater stattfand. Der Erfolg von „Judit“ weckte das Interesse von Valentina Bergman, einer jungen Bewunderin Serovs und einer talentierten Musikerin aus einer bescheidenen jüdischen Familie, ihn kennenzulernen. Valentina begann Privatstunden bei Serov zu nehmen und heiratete ihn einige Monate später. Im Jahr 1865 wurde ihr Sohn Valentin geboren. Der Vater des zukünftigen Künstlers starb, als der Junge sechs Jahre alt war. Bald darauf zogen Valentina und ihr Sohn nach München. Sie bemerkte früh Valentins Talent zum Zeichnen und schickte ihn zunächst zu einem deutschen Gravierer und dann, auf Empfehlung des Bildhauers Mark Antokolsky, zu dem jungen Ilya Repin als Schüler. Valentins Unterricht bei Repin begann in Paris und setzte sich in Moskau fort, bis er 1880 die Prüfungen bestand und in die Petersburger Kunstakademie in die Klasse von Pavel Chistyakov aufgenommen wurde. „Sowohl Zeichnung, als auch Farbe, als auch Licht und Schatten, als auch Charakterisierung, als auch das Gefühl der Einheit ihrer Aufgabe und die Komposition – all das hatte Serov, und das in hervorragendem Maße“, so äußerte sich sein Lehrer Chistyakov über seinen Schüler. Nach fünf Jahren an der Akademie verließ Valentin Serov diese, da er selbständig arbeiten wollte. Er begann seine Karriere als Landschaftsmaler, erlangte aber Berühmtheit als herausragender Meister des psychologischen Porträts. Obwohl die Verbindung Serovs als Mensch und Künstler zum Judentum nicht tief und fest war, war er doch unversöhnlich gegenüber jeglichen Formen des Antisemitismus eingestellt.

    Serov verbrachte oft Zeit in Abramzewo, dem Landgut des Moskauer Kaufmanns Sawwa Mamontow. Hier malte er das Porträt der 12-jährigen Vera Mamontowa, das berühmte Gemälde „Mädchen mit Pfirsichen“. Die junge Modell stand Serov jeden Tag über einen Monat lang Modell. „Alles, was ich erreichen wollte, war die Frische, diese besondere Frische, die man immer in der Natur spürt und in Gemälden nicht sieht. Ich malte fast zwei Monate und erschöpfte sie, die arme, fast zu Tode, ich wollte die Frische der Malerei unbedingt bewahren…“

    In Abramzewo, Valentin Serov malte auch das berühmte Porträt seiner Verlobten Olga Trubnikowa. Sie wurde in der Familie von Serovs Tante mütterlicherseits, Adelaide Simonowitsch, erzogen, die den Arzt und Kinderarzt Jakow Simonowitsch heiratete, einen getauften Juden wie sie selbst. Serov war dieser Familie nahe und schuf zahlreiche Porträts ihrer Mitglieder. Als sein bedeutendstes Werk betrachtete Serov das Gemälde „Mädchen im Sonnenlicht“, das er 1888 ebenfalls in Abramzewo malte. Sein Modell war seine Cousine Maria Simonowitsch, die Schwester des Künstlers. Der Künstler hatte lange davon geträumt, ein Porträt im Garten zu malen und das Spiel von Licht und Schatten darzustellen. Die Arbeit an dem Gemälde dauerte drei Monate, während denen Maria täglich mehrere Stunden dem Künstler Modell stehen musste. Später studierte sie selbst Bildhauerei und Malerei in Paris, wo sie den Psychiater Solomon Lvov heiratete. Ihr Sohn, der französische Mikrobiologe und Nobelpreisträger André Lvov, stammte aus dieser Ehe. Weniger bekannt ist das Porträt von Marias jüngerer Schwester Nadeschda Dervis mit einem Kind (1889), das ebenfalls in der Tretjakow-Galerie aufbewahrt wird.

    „Das Mädchen mit Pfirsichen“ und „Mädchen im Sonnenlicht“ wurden auf der Ausstellung der Wanderer-Künstler im Jahr 1888 gezeigt, woraufhin Valentin Serov Anerkennung von Kritikern und Publikum erhielt. Besonders schätzten die Impressionisten Serovs malerischen Stil und die Verschmelzung von Genres wie Porträt, Landschaft und Interieur. Im Januar 1889 heirateten Olga Trubnikowa und Serov in Sankt Petersburg und besuchten gemeinsam die Weltausstellung in Paris, bevor sie sich in Moskau niederließen. In den 1890er Jahren arbeitete der Künstler intensiv an Auftragsporträts und reiste durch Russland.

    Im Jahr 1891 begann der neue Moskauer Generalgouverneur, Großfürst Sergei Alexandrowitsch, jüdische Kaufleute und Handwerker aus Moskau zu vertreiben. Auch der berühmte Künstler Isaak Levitan geriet in diese heiße Phase und musste die Stadt verlassen. Nur durch das Eingreifen einflussreicher Freunde gelang es ihm, zurückzukehren. Genau in dieser Zeit malte Serov das heute berühmte Porträt seines Freundes Isaak Lewitan.

    Valentin Serov pflegte eine freundschaftliche Beziehung zu den Mäzenen Vladimir und Henrietta Girshman. Vladimir Osipovich besaß eine Nadelmanufaktur in der Umgebung von Moskau und sammelte Werke russischer Künstler. Henrietta Leopoldovna galt als die schönste Frau Moskaus und wurde bewundert, beneidet und von manchen sogar gehasst. Insgesamt bestellte sie bei Serov fünf Porträts von sich selbst, doch das bekannteste davon wurde „Vor dem Spiegel“, das im Jahr 1907 gemalt wurde.

    Bei der Arbeit an dem Porträt von ihrem Ehemann Vladimir Girshman strebte der Künstler keineswegs danach, ihm zu schmeicheln. Vielmehr wurde das Gemälde in satirischer Weise gestaltet: das räuberische Gesichtsausdruck und die gewohnte Geste der Hand, die Geldscheine oder einen Scheck aus der Tasche zieht. Das Porträt war spöttisch, aber überzeugend. Nach der Revolution zogen die Girshmans nach Paris, wo Vladimir Osipovich einen Kunstsalon betrieb. Henrietta erlebte ein langes Leben und überlebte Serov um 59 Jahre. Sie erinnerte sich oft an ihren unvergesslichen Freund: „Man sagt, Serov sei ein grimmiger, schweigsamer und menschenscheuer Mensch gewesen. Das ist völlig falsch. Er hörte lieber zu, aber ihn düster und menschenscheu zu nennen, wäre nicht richtig gewesen.“

    Im Jahr 1910 lernte Valentin Serov während seines Aufenthalts auf der Datscha in Sestrorezk bei St. Petersburg den Anwalt Oscar und seine Frau Rosa Grusenberg kennen. Ein weiterer Auftrag weckte keinen Enthusiasmus in Serov, die Modelle inspirierten ihn nicht. Auch die makellose rechtliche Reputation von Oscar Grusenberg, der mutig in aussichtslose politische und insbesondere „jüdische“ Fälle verwickelt war, half nicht. Ein Jahr später führte Gruzenberg die Verteidigung im Beilis-Prozess an. In einem Brief an Ilya Ostroukhov beschwerte sich der Künstler: „Ich stecke hier in Sestrorezk fest mit einem Porträt, es funktioniert nicht, verdammt.“ Und er fügte scherzhaft hinzu: „In letzter Zeit habe ich Glück mit den Juden.“ Werke, die ihm keine kreative Befriedigung brachten, nannte Serov in seiner Korrespondenz scherzhaft „Porträt-Porträts“ oder „Patret“. Über das Doppelporträt der Grusenbergs schrieb er an seine Frau: „Es ist immer noch ein ‚Patret‘, obwohl schmutzig, aber ich habe wohl das dargestellt, was ich darstellen wollte – die Provinz, das Dorf ist in ihrem Gesicht und Lachen spürbar.“ Interessanterweise wurde das vom Künstler selbst niedrig bewertete Werk später seine teuerste Arbeit. Vor drei Jahren wurde das Porträt zu Beginn einer Auktion in Miami auf 150.000 US-Dollar geschätzt, wurde jedoch für rekordverdächtige 4,1 Millionen US-Dollar verkauft.

    In den frühen 1910er Jahren arbeitete Valentin Serov mit Sergei Diaghilev an seinen Russischen Saisons zusammen. Er malte ein Porträt von Diaghilev selbst, entwarf ein Plakat für das Ballett mit der schwebenden Anna Pawlowna und schuf ein Gemälde mit der nackten Tänzerin Ida Rubinstein.

    Dieses Porträt von Serov, gemalt im Jahr 1910 und im Russischen Museum aufbewahrt, ist eine eigenwillige Krönung des Künstlers Werk und gleichzeitig sein skandalösestes Werk. Ida Rubinstein wurde in einer Familie von Zuckerfabrikanten aus Charkow geboren, einer der reichsten Familien des Südens Russlands. Schon von Kindheit an träumte sie von der Bühne, konnte aber angesichts der damaligen Schönheitsideale nicht einmal davon träumen, eine Ballerina zu werden. Trotzdem wagte sie es, ohne spezielle choreografische Ausbildung mutig neben berühmten Tänzern aufzutreten und sie zu übertreffen! Ida war völlig unbekümmert über ihren Körper, und genau deshalb stimmte sie sofort zu, sich Serov nackt zu zeigen.

    Dieses Porträt von Ida sorgte für viel Aufsehen: Die einen bewunderten die Anmut und die schlanken Formen der Schauspielerin, andere nannten sie boshaft mal „Skelett“, mal „Frosch“. Allerdings spielte das alles Ida nur in die Hände und festigte ihr Image als exzentrische und aufsehenerregende Diva. Nach der Revolution emigrierte Rubinstein nach Paris.

    Im Jahr 1911 starb Valentin Serov an einem Herzinfarkt. Der Künstler wurde auf dem Donskoi-Friedhof beerdigt, später wurden seine Überreste auf den Nowodewitschi-Friedhof umgebettet.

    Auf zahlreichen Porträts von Serov zieht eine ganze Epoche an uns vorbei: Hohe Persönlichkeiten, Fürsten und Grafen, Politiker, Schriftsteller, Künstler, Künstlerinnen. „Serovs Gemälde sind ein kollektives Porträt von Russland, das wir verloren haben, es ist Atlantis, von der sich die Russen so ungern verabschieden möchten“, bemerkte der Kunsthistoriker Anton Dolin. Wie wir gesehen haben, nehmen auch jüdische Namen einen bedeutenden Platz in diesem „Atlantis“ ein.

    Autor: Yakub Zair-Bek

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