Einige Worte zur Bedeutung des Begriffs „Bar Mizwa“. Nach den Gesetzen des Judentums erreichen jüdische Jungen mit 13 Jahren die religiöse Mündigkeit, Mädchen mit zwölf. Ab diesem Alter wird ein Junge „Bar Mizwa“ (aus dem Hebräischen übersetzt: „Sohn des Gebots“), ein Mädchen entsprechend „Bat Mizwa“ („Tochter des Gebots“), und das Kind ist von da an selbst für seine Handlungen verantwortlich. Das bedeutet, dass ab dem entsprechenden Geburtstag (nach dem jüdischen Kalender, versteht sich) alle Gebote der Tora für das Kind verbindlich werden, und es eigenverantwortlich handelt. In diesem Essay werde ich den Leserinnen und Lesern von einer ungewöhnlichen Feier berichten, an der ich teilnehmen durfte.
An einem der Mai-Samstage herrschte von frühmorgens an reges Treiben in der sonst ruhigen Luisenstraße im niedersächsischen Delmenhorst, einer Stadt etwas über 30 Kilometer von Oldenburg entfernt. Vor einem auf den ersten Blick unscheinbaren Backsteingebäude, das etwas zurückgesetzt in einem kleinen Hof hinter einem soliden Metallzaun liegt, fuhren nach und nach Autos vor. Aus ihnen stiegen festlich gekleidete Menschen, gingen die niedrige Treppe hinauf und verschwanden hinter der massiven Tür.



Ich will die Leser nicht im Ungewissen lassen. In dem oben erwähnten roten Backsteingebäude befindet sich die Jüdische Gemeinde Delmenhorst mit einer Synagoge und einem kleinen Gemeindezentrum. Und an jenem Frühlingstag, dem 10. Mai 2025, fand dort ein Schabbat-Gottesdienst sowie die Feier zur religiösen Mündigkeit statt. Die Kastanien, die entlang der Luisenstraße wachsen, trugen mit ihren aufblühenden „Kerzen“ zur festlichen Stimmung bei. Das Besondere an diesem Fest war, dass gleich zwei Ereignisse gleichzeitig gefeiert wurden: die Bar Mizwa von Refael Simon-Treiger und die Bat Mizwa von Sofia Tschernenko. Doch das war noch nicht alles. Am Gottesdienst und an der Feier nahmen gleich drei Rabbiner teil – Alina Treiger, den Leserinnen und Lesern bereits durch zahlreiche Beiträge auf unserer Website gut bekannt, sowie die Rabbiner Jona Simon und Paul Strasko.
Doch es ist an der Zeit, die Leserinnen und Leser mit den Familien der „Hauptpersonen des Festes“ bekannt zu machen. Wie Sie wahrscheinlich bereits vermutet haben, sind die Rabbiner Alina und Jona die Eltern von Refael. Sofia stammt aus einer Familie jüdischer Geflüchteter: Im frühen Frühjahr 2022, nach dem großflächigen Einmarsch Putins Russland in die Ukraine, floh sie zusammen mit ihrer Mutter Ljudmila Asina aus Poltawa nach Deutschland und kam nach Oldenburg. Später stieß auch ihr Bruder Kyrylo zu ihnen. Heute besucht Sofia die 7. Klasse eines Oldenburger Gymnasiums, hat die deutsche Sprache gut gelernt und integriert sich insgesamt erfolgreich. Ihr älterer Bruder Kyrylo besucht Sprach- und Integrationskurse an der Volkshochschule Bremerhaven und ist der dortigen jüdischen Gemeinde beigetreten.
Die Durchführung der Bar und Bat Mizwa-Zeremonie erfordert eine ernsthafte und vielseitige Vorbereitung. Sofia wurde auf dieses Ereignis von Rabbinerin Alina Treiger vorbereitet. Eigentlich wurde das Mädchen schon im April 2024 zwölf Jahre alt. Doch da Refael erst im Mai 2025 sein 13. Lebensjahr vollendete, beschloss man, ein weiteres Jahr zu warten, um beide Feiern zu einem gemeinsamen Fest zusammenzulegen. Zumal die beiden Kinder befreundet sind und Sofias Mutter Ljudmila seit vielen Jahren – noch aus der gemeinsamen Zeit in Poltawa – mit Alina befreundet ist. Und die Entscheidung erwies sich als richtig: Die Kinder hatten mehr Zeit für eine fundierte Vorbereitung.

Refael absolvierte seine allgemeine Vorbereitung auf die Bar Mizwa unter der Leitung von Rabbiner Paul Strasko, das Lesen auf Hebräisch brachte ihm jedoch seine Mutter Alina bei. Übrigens war es nicht einfach, all diesen Unterricht zu organisieren: Seit Herbst letzten Jahres ist Rabbinerin und Kantorin Alina Treiger liberale Landesrabbinerin von Hamburg, während die Kinder – Refael und Sofia – ständig in Oldenburg leben und zur Schule gehen. Doch jeden Sonntag unterrichtet Rabbinerin Alina in Hamburg Kinder, die im kommenden Jahr ihre Bar oder Bat Mizwa feiern werden. Sie bringt ihnen Hebräisch bei und lehrt sie, genauer gesagt, sie lehrt sie, Toraabschnitte zu lesen beziehungsweise zu singen. An diesen Unterrichtseinheiten nahmen auch Sofia und Refael regelmäßig teil, indem sie sich über die Plattform Zoom zuschalteten.
Die gemeinsame Feier sollte aus mehreren Gründen in Delmenhorst stattfinden. Erstens war Rabbinerin Alina über 14 Jahre hinweg – neben ihrer Tätigkeit für die Jüdische Gemeinde Oldenburg – auch in der Gemeinde Delmenhorst aktiv; sie und ihr Sohn sind hier gut bekannt, beliebt und sehr geachtet. Zweitens war der erste Vorsitzende der hiesigen Gemeinde im Jahr 2012 Sandak bei Refael, das heißt, er hielt ihn während der Brit-Mila-Zeremonie (Beschneidung) in den Armen. Drittens stellte die Jüdische Gemeinde Delmenhors freundlicherweise die Räumlichkeiten für die Feier zur Verfügung.
Wie die Humoristen in der Fernsehspielshow „KVN“ zu sagen pflegten: „Improvisationen muss man proben.“ In jedem Scherz steckt bekanntlich nur ein Körnchen Spaß. Damit beim eigentlichen Fest alles glatt und reibungslos verlief, mussten die Kinder eine Reihe wichtiger Handlungen mehrfach einüben: wie man die Tora richtig trägt, Abschnitte aus der Torarolle liest, ihre Drascha (Auslegung) gefühlvoll und ohne Stocken vorträgt usw. Für diese Proben kamen die Kinder mit ihren Eltern mehrfach nach Delmenhorst, um vor Ort alle notwendigen Abläufe zu trainieren. Vorweg sei gesagt: Beim Fest selbst lief alles auf hohem Niveau und vollkommen reibungslos ab. Die natürliche kindliche Scheu – besonders bei Sofia – konnte erfolgreich überwunden werden, und beide – Sofia und Refael – traten sehr souverän auf, ohne Hemmungen, und scheuten sich nicht, vor dem „Publikum“ zu sprechen. Das ist zweifellos auch ein großer Verdienst von Rabbinerin Alina Treiger.
Ein wichtiger Bestandteil der Bar oder Bat Mizwa ist das Vortragen der eigenen Drascha – also einer kurzen religiösen Ansprache, mit der das erworbene Wissen unter Beweis gestellt werden soll. Sofias Drascha wurde unter der Leitung von Rabbinerin Alina verfasst, dabei half auch ihre Mutter Ljudmila. Zuerst wurde das Thema der Drascha ausgewählt, anschließend suchte man Material dazu, passende Zitate, rabbinische Kommentare und Ähnliches. In ähnlicher Weise entstand auch Refaels Drascha – unter der Anleitung von Rabbiner Paul Strasko.
Doch kehren wir zurück zur Jüdischen Gemeinde Delmenhorst an jenem festlichen Maitag. Schon direkt beim Betreten fiel auf, dass das Vestibül, der Gebetsraum und der Kidduschraum wunderschön geschmückt waren. Dafür hatte sich ein ganzes „Team“ ordentlich ins Zeug gelegt: Rabbinerin Alina, Ljudmila Asina, Sofia und ihr Bruder Kyrylo sowie Benja, der jüngere Bruder von Refael.


Bis 10 Uhr morgens war der Gebetsraum der Synagoge, der für etwa 70 Personen ausgelegt ist, bis auf den letzten Platz gefüllt; einige mussten sogar entlang der Wand und hinter der letzten Sitzreihe stehen. Insgesamt, so die Angaben der Veranstalter, waren etwa 80 Personen bei der Feier anwesend. Neben den Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde Delmenhorst gab es viele Gäste aus verschiedenen Städten Deutschlands – Hamburg, Bremen, Bremerhaven, Berlin, Rügen, Oldenburg, Bielefeld und anderen. Ehrengäste der Feier waren die Vorsitzende des Bundes der Progressiven Juden in Deutschland (UPJ), Irit Michelsohn, und die Geschäftsführerin der UPJ, Ekaterina Solodkaia.
Der festliche Gottesdienst war so „geplant“, dass der erste Teil der Bat Mizwa von Sofia Chernenko gewidmet war: Als wahrer Gentleman überließ Refael das erste „Wort“ dem Mädchen. Übrigens sah Sofia großartig aus: Ihr strenger Hosenanzug saß hervorragend an ihrer schlanken Figur und betonte so ihr Heranwachsen und Erwachsenwerden. Einen sehr positiven Eindruck auf mich machte ihr Auftreten, als sie hinter der Bima stand und einen Abschnitt aus der Torarolle beziehungsweise ihre Drascha vortrug: Sie wirkte weder verlegen noch schüchtern oder unsicher. Ich habe bereits weiter oben beschrieben, wie die Vorbereitung ihrer Drascha verlief. Nun ein paar Worte zu ihrem Thema. Für ihre kleine „Untersuchung“ wählte Sofia „Das Gericht der Gerechtigkeit und das Gericht des Herzens“ als Thema und illustrierte es nicht nur mit Zitaten aus den heiligen Schriften, sondern auch mit Aussagen jüdischer Weiser. Sie schloss ihre Drascha mit den Worten: „Möge uns der Mut gegeben sein, das Gute zu verteidigen, und die Weisheit, den Unschuldigen nicht zu verurteilen.“
Sofia trug den Text aus der Tora wunderbar vor und sprach Gebete sowie Segenssprüche. Rabbinerin und Kantorin Alina Treiger brachte mit ihrem erstaunlichen Sopran die Gebete eindrucksvoll allen Anwesenden des Gottesdienstes nahe. In ihrer Predigt erinnerte uns Alina daran, dass wir, während wir unter der Führung unserer Eltern und Lehrer heranwachsen, lernen, Verantwortung zu übernehmen – zunächst für unser eigenes Leben, um später auch für andere Menschen Verantwortung tragen zu können. Gleichzeitig ermutigte Rabbinerin Alina Treiger Sofia dazu, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen und zu lernen, eigenständig Entscheidungen zu treffen.

Dann wurde die Toraschrein (Aron Kodesch) geöffnet, aus der Rabbiner Paul Strasko feierlich zwei Torarollen nahm und sie Sofia und Refael überreichte. Damit erhielten beide das heilige Gebot „von Generation zu Generation“. Nach dem gemeinsamen Singen des „Schma Jisrael“ trugen Sofia und Refael die Torarollen mit Freude durch den Gebetsraum, hielten dabei an einigen Stellen inne, sodass die Betenden ihre Gebetsbücher oder Tallit an die Rollen legen konnten. Anschließend wurden die Eltern und weitere Verwandte der Kinder zur Tora gerufen, wo ihnen Rabbiner Strasko Dank und Anerkennung dafür aussprach, dass sie Sofia und Refael gut erzogen haben.



Im zweiten Teil des Schabbat-Gottesdienstes trug Refael ebenfalls den Text aus der Tora hervorragend vor, sprach die notwendigen Gebete und die traditionellen Segenssprüche. Wie er die Worte im alten Hebräisch aussprach und die Heiligen Schriften fließend las, überraschte niemanden, da Refael diesen Teil der Vorbereitung auf die Bar Mizwa unter der Leitung seiner Mutter, Rabbinerin Alina Treiger, durchlaufen hatte. Seine Drascha begann Refael mit Dankesworten und erwähnte alle, die ihm bei der Vorbereitung auf die Bar Mizwa geholfen hatten. Der Hauptteil der Drascha widmete sich dem schwierigen Thema der grausamen Steinigung als Todesstrafe und der Todesstrafe im Allgemeinen. Interessanterweise nutzte er bei der Arbeit an diesem Thema moderne Technologien der künstlichen Intelligenz – den Chatbot ChatGPT. Nach der Analyse einiger Tora-Texte und anderer Dokumente zog Refael die richtige Schlussfolgerung, dass die Gesellschaft nicht darüber entscheiden sollte, wer des Lebens oder des Todes würdig ist, weil das Leben der höchste Wert ist, den der Allmächtige schenkt.


Im Kiduschraum der Gemeinde bereitete das Küchenteam unter der Leitung der Spitzenköchin Elena Ljubarowa eine wunderbare Bewirtung für die Gäste des Festes vor. Es gab eine Vielzahl von Gerichten: Hummus und gebratenen Fisch, im Ofen gebackenes Gemüse, marinierte Pilze, Pilaw und vieles mehr.

Dieses wundervolle „doppelte“ Fest in der Jüdischen Gemeinde Delmenhorst fand seinen Abschluss … Die Gäste verabschiedeten sich mit den herzlichsten Gefühlen und Worten des Dankes an die Organisatoren des Festes, Sofia und Refael sowie ihre Eltern Ljudmila, Alina und Jona und deren Familien. Sie dankten für die zahlreichen Umarmungen, Begegnungen und Gespräche, dafür, dass sie Teil dieses großen Freundeskreises werden durften – ganz gleich, aus welcher Stadt sie gekommen waren –, für die großartige Stimmung und die Gastfreundschaft der örtlichen jüdischen Gemeinde.
Autor: Yakub Zair-Bek
Fotos aus den Archiven @LJGO und @DerBote-DerShlikh