Unseren ersten Artikel für die neue Rubrik auf der Website „Der Bote – Der Shlikh“ haben wir dem ehrenden Gedenken an unsere Freundin, die langjährige Deutschlehrerin Isabell Sinelnikova, gewidmet. Zumal kürzlich der 85. Jahrestag ihres Geburtstages gefeiert wurde.
Sie wurde am 9. Oktober 1939 in Taschkent, Usbekistan, in eine gebildete Familie geboren. Ihr Vater, Juri Sinelnikov, war Absolvent des berühmten Moskauer Instituts für Philosophie, Literatur und Geschichte (MIFLI) und lehrte Philosophie, während ihre Mutter Dina Ärztin und Therapeutin war. Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Juri in die Rote Armee eingezogen und zog in den Krieg. Die Familie blieb in Taschkent. Mit der Armee kämpfte sich Juri bis nach Berlin durch. Nach dem Krieg blieb er in der Roten Armee und wurde an die neugegründete Humboldt-Universität in Ost-Berlin delegiert, wo er marxistisch-leninistische Philosophie lehrte. Zu dieser Zeit kam auch seine Familie nach Deutschland, und Isabell besuchte die Grundschule in Deutschland, wo sie mit deutschen Altersgenossen Kontakt hatte. So eignete sie sich solide Grundkenntnisse der deutschen Sprache an.
Nach der Rückkehr in ihre Heimatstadt Taschkent besuchte Isabell eine gewöhnliche Mittelschule. Wie sie selbst erzählte, war ihr Verhalten im Unterricht in jungen Jahren nicht immer vorbildlich, doch ihre schulischen Leistungen waren hervorragend. Nach ihrem Abitur schrieb sie sich an der Pädagogischen Hochschule für Fremdsprachen in Taschkent im Fachbereich Deutsche Sprache und Literatur ein, den sie 1961 erfolgreich abschloss. Sie arbeitete als Deutschlehrerin an genau jener Mittelschule in Taschkent, die sie selbst zuvor besucht hatte. Diese Tätigkeit als Sprachlehrerin verband sie mit der Rolle als Klassenleiterin der 8. bis 10. Klasse – der als „schwierigen“ Kinderjahre geltenden Altersstufe, was recht ungewöhnlich ist. Sie war sehr engagiert, aktiv, Mitglied der Partei und beteiligte sich an gesellschaftlicher Arbeit. Trotz des „fünften Punkts“ in ihrer Personalakte reiste sie mehrfach ins Ausland, unter anderem als Mitglied einer Delegation von Fremdsprachenlehrern nach Oldenburg.
1962 heiratete Isabell den jungen und talentierten Seismologen Isaak (den alle Sascha nannten) Zipenjuka. Gemeinsam hatten sie zwei Kinder – Olja und Wlad.
1994 zog Isabell mit ihrem Ehemann Sascha, der inzwischen bereits Doktor der Technischen Wissenschaften war, dauerhaft nach Deutschland und lebte und arbeitete seitdem in Oldenburg. Fünfzehn Jahre lang unterrichtete sie Deutsch an der Volkshochschule.
2004 verstarb ihr Ehemann Sascha Zipenjuka nach schwerer Krankheit, und kurz darauf erkrankte auch Isabell selbst. Jeden Tag kämpfte sie tapfer und entschlossen gegen die schwere und tückische Krankheit.
Nun möchte ich gewissermaßen virtuell das Wort an Isabell selbst übergeben. Hier ist, was sie in einem Artikel schrieb, der in der Gemeindepostille „Westnik“ veröffentlicht wurde und in dem sie über ihre Arbeit als Deutschlehrerin in der jüdischen Gemeinde von Oldenburg berichtete:
„Für diejenigen, die zum dauerhaften Aufenthalt nach Deutschland kommen, bietet das Land sofort verschiedene Sprachkurse an. Das ist eine enorme, unschätzbare Hilfe, und für viele reichen diese Kurse aus, um erfolgreich in ein neues Leben zu starten. Doch es gibt auch jene, die immer wieder die Feinheiten der deutschen Grammatik durchdringen, ihre Sprachfähigkeiten verbessern und lokale Ereignisse diskutieren möchten. Für solche Enthusiasten, die sich für die Sprache interessieren und neugierig auf die Nachrichten aus Deutschland, Israel und der jüdischen Gemeinde Oldenburgs sind, wurde vor vielen Jahren auf Initiative der langjährigen Vorsitzenden Frau Sara-Ruth Schuman ein Deutschkurs eingerichtet. Für diese Kurse stellt die Gemeindeleitung geeignete Räumlichkeiten entsprechend der Teilnehmerzahl zur Verfügung und sorgt für Lehrbücher und Wörterbücher. Die Zusammensetzung der Teilnehmer ändert sich ständig, und alle haben unterschiedliche Erwartungen und Wünsche an den Lernprozess. Viele der ‚Absolventen‘ dieses Kurses stehen bereits fest im Leben, haben Arbeit gefunden und kaum noch Sprachprobleme. Es gibt aber auch jene, die erst kürzlich angekommen sind und bei null anfangen. Manche kommen nur für kurze Zeit und warten auf eine Zuweisung durch soziale Dienste, andere möchten das Erlernte auffrischen und festigen – für jeden finden sich hier Lernmethoden und Aufgaben, die seinem Niveau und Ziel entsprechen.
Im Verlauf des Kurses erweitern wir nicht nur den Wortschatz, versuchen die Satzstruktur zu verstehen oder uns die schwer zu merkenden Artikel einzuprägen. Unser Hauptziel ist es, dieses Wissen in die Alltagssprache zu integrieren. Der Kurs hilft dabei, sich beim Arzt, bei der Post oder bei einem Beamten in einer Behörde verständlich zu machen. Schließlich kommuniziert man auch mit den Nachbarn hier anders, und es geht nicht nur um den Wortschatz. Es ist wichtig zu wissen, wie man seine Gedanken ausdrückt und welche Verhaltensregeln man beachten muss, damit man respektvoll behandelt wird…“
Man muss sagen, dass Isabell ihre Arbeit als Lehrerin und Pädagogin nicht nur formal, sondern kreativ und unkonventionell anging und dabei großes pädagogisches Talent bewies. Ihren Schülern – und nicht nur ihnen – werden sicherlich die von ihr organisierten gemeinsamen Frühstücke in Erinnerung bleiben, die vor Weihnachten im Restaurant Wöbke stattfanden, bei denen sie über deutsche Bräuche, Traditionen und Gewohnheiten erzählte. Oder die gemeinsamen Besuche der Ausstellungen zum Gedenken an den Holocaust am 9. November, die von einer der Schulen Oldenburgs in der Stadtbibliothek am Pferdemarkt organisiert wurden.
Auch gemeinsame Kulturbesuche in Museen zu thematischen Ausstellungen und Vernissagen gehörten dazu – und noch vieles mehr! All dies diente dem tieferen Erlernen der Sprache und förderte die Integration in die deutsche Gesellschaft. Isabell widmete sich ihrer Arbeit mit großer Hingabe, selbst wenn sie krank war. Wenn die Krankheit sie etwas losließ, fand sie die Kraft, an den Unterricht teilzunehmen – stets gepflegt, modisch gekleidet, mit Frisur und Maniküre. Auch während der Corona-Pandemie wollte sie keine lange „Pause“ machen und organisierte es, dass die Deutschkurse fast online – per E-Mail – weitergeführt wurden. Fast bis zu ihrem Tod…
Hier ist ein kurzes Essay von Isabell, das dem Erlernen der deutschen Sprache gewidmet ist. Also…
„SPRECHEN SIE DEUTSCH? Wie gern möchte man auf diese Frage bejahend antworten. Und auf alle weiteren Fragen schnell, sicher und ohne Zögern. Doch leider, wenn wir nicht in Deutschland geboren sind oder in einem Alter hierher gekommen sind, in dem nicht viel automatisch im Gedächtnis hängen bleibt, wird der Weg zum Erfolg kein leichter sein. Dieser Erfolg hängt stark von unserem Willen, Fleiß und unseren Fähigkeiten ab, doch allein das reicht oft nicht aus.
Sprachprobleme treten selten allein auf; sie ziehen unweigerlich nicht nur Alltagsprobleme, Schwierigkeiten bei der Kommunikation und Arbeitssuche nach sich, sondern verstärken auch das Gefühl der Isolation. Es ist schwer, sich sicher und glücklich zu fühlen, wenn man nicht genug über die Traditionen des Gastlandes, das richtige Verhalten in bestimmten Situationen oder die angemessene Ausdrucksweise in verschiedenen Fällen weiß. Diese Kenntnisse sind lebenswichtig; ohne sie sind wir oft unzufrieden mit uns selbst und der Welt um uns herum.
Das Leben im neuen Land stellt uns täglich vor viele Fragen, und der Sprachkurs hilft, auf viele davon Antworten zu finden. Hier gibt es immer Raum für informellen Austausch, das Teilen von Lebenserfahrungen und die Analyse alltäglicher Situationen – und all das im Kontext der deutschen Sprache, zum Nutzen jedes Teilnehmers. Wir freuen uns über jeden, der sich entscheidet, sich uns anzuschließen, um gemeinsam das Land, in das wir gekommen sind, kennenzulernen und nicht nur die Sprache, sondern auch den Alltag, die Kultur und die Traditionen zu verstehen…“
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Abschließend zu diesem kurzen Artikel möchte ich noch einmal betonen, dass unsere Freundin Isabell Sinelnikova genauso war wie wir, aber gleichzeitig auch ganz anders – mit einem besonderen Kommunikations- und Verhaltensstil, einem einzigartigen weiblichen Charme, einem besonderen Charisma. Möge ihr ein ehrendes Andenken bleiben…
Autor: Yakub Zair-Bek
(Fotos von Michail Beilis und aus dem Archiv des Autors)