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Rabbinerin und Kantorin Alina Treiger

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    Am Donnerstag, dem 5. September 2024, fand in der Synagoge in der Rykestraße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, der größten und schönsten Synagoge Deutschlands, etwas Ungewöhnliches statt. An diesem Tag fand hier die feierliche Einweihung von zwei Rabbinern und sechs Kantoren statt, die am liberalen Abraham-Geiger-Kolleg (AGK) in Potsdam ausgebildet wurden. Unter den „Hauptpersonen der Feier“ war auch die Rabbinerin Alina Treiger, die nun auch als Kantorin ordiniert wurde. Doch alles der Reihe nach…

    Alina Treiger wurde in der Stadt Poltawa (Ukraine) in eine assimiliert-jüdische Familie geboren. Schon im Kindergarten begeisterte sich das Mädchen für Musik und Gesang. Sie hatte eine klare Stimme mit einem sehr angenehmen Timbre und nahm regelmäßig an Kinderveranstaltungen im Kindergarten und anderen Aktivitäten teil, sang im Chor und war Solistin. Daher entschied ihre Mutter, sie in eine Musikschule zu schicken, die Alina bereits im Alter von sechs Jahren besuchte. Während ihrer Schulzeit in der Gymnasialstufe besuchte sie die Sonntagsschule der jüdischen Gemeinde in Poltawa und setzte gleichzeitig ihren Musikunterricht im Fach Klavier fort, später auch an der Musikschule im Fach Chorgesang. Im Rahmen eines Programms der Jewish Agency for Israel („Sohnut“) nahm Alina an Kursen für Jugendleiter (hebr. „Madricha“) teil, woraufhin sie mit Kindergruppen in Sommerlagern in der Ukraine und in Israel arbeitete. Dort erhielt sie eine Empfehlung und wurde für das Studium am Moskauer Institut des Weltverbandes für Progressiven Judentum ausgewählt, wo sie drei Jahre lang studierte. Genau dort, in Moskau, wurde ihr vorgeschlagen, weiter zu studieren, um den Titel einer Rabbinerin zu erlangen. Laut Alina selbst kam das für sie völlig überraschend und erforderte eine mutige Entscheidung, die ihre Lebenspläne grundlegend veränderte. Nach einem Jahr Vorbereitung auf das Rabbinat in Moskau studierte sie fünf Jahre am Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam und danach ein weiteres Jahr in Israel.

    Als Alina am Abraham-Geiger-Kolleg (AGK) aufgenommen wurde, hatte sie den Wunsch, Kantorin zu werden, aber zu dieser Zeit gab es dort noch keine Kantorenausbildung. Außerdem herrschte in Deutschland damals ein akuter Mangel an Rabbinern, die in den Gemeinden dringender gebraucht wurden als Kantoren. Dennoch erhielt Alina während ihrer Ausbildung zum Rabbiner, aufgrund ihrer außergewöhnlichen musikalischen Fähigkeiten, die Möglichkeit, zusätzlich bei Kantoren in Israel zu lernen, obwohl diese unregelmäßigen Unterrichtseinheiten für sie offensichtlich nicht ausreichend waren.

    Während ihrer Ausbildung am Abraham-Geiger-Kolleg absolvierte Alina Treiger ein Praktikum in der Jüdischen Gemeinde Oldenburg. Sie lernte diese niedersächsische Stadt, das Leben der örtlichen Gemeinde und deren langjährige Vorsitzende Sarah-Ruth Schumann kennen, die sie dann auch in die Gemeinde einlud, um dort zu arbeiten. Im Jahr 2010 wurde Alina zur Rabbinerin ordiniert und war damit die erste Frau, die nach dem Holocaust diesen Titel in Deutschland erhielt. Ab November desselben Jahres übernahm sie die Position der Rabbinerin in Oldenburg sowie in der nahegelegenen Stadt Delmenhorst.

    Wenn man über Alina Treiger spricht, kann man nicht den Aspekt ihrer Tätigkeit unerwähnt lassen, der für die Arbeit einer Rabbinerin eher ungewöhnlich ist. Mit einer guten musikalischen Ausbildung und einer wunderschönen Stimmfarbe singt Alina nicht nur während der Gottesdienste hervorragend, sondern organisierte und leitete auch viele Jahre den Chor „Kol ha-Neschama“ („Stimme der Seele“), dessen Auftritte stets großen Erfolg hatten. So fand während der Woche der Jüdischen Kultur in Oldenburg, die im Rahmen der Feierlichkeiten zum 25-jährigen Jubiläum der Wiedergründung der Jüdischen Gemeinde stattfand, ein Konzert mit Synagogen- und jüdischer Volksmusik statt, das vom Chor unter der Leitung von Alina Treiger aufgeführt wurde. Dieses Konzert war jedoch nicht ganz gewöhnlich: Diesmal wurde den zahlreichen Zuschauern eine theatralische Show mit interessanten Einfällen und Neuheiten präsentiert. Dazu gehörten die schönen Kostüme der Chormitglieder – weiße Blusen mit blauen Schals oder Krawatten in den Farben der israelischen Flagge – sowie mehrere Konzertmoderatoren, die sich nacheinander abwechselten, das spektakuläre Flackern von Feuer während der Darbietung des letzten Stücks des Programms und vieles mehr. Das Publikum bedankte sich großzügig bei den „Künstlern“ mit aufrichtigem Applaus, und jeder von ihnen erhielt Blumen.

    Als vor einigen Jahren das ruhige Leben der „Kinder- und Jugendabteilung“ der Gemeinde durch den überraschenden Vorschlag von Rabbinerin Alina Treiger, am jährlichen deutschlandweiten Jugendwettbewerb für jüdisches Lied und Tanz „Jewrovision“ teilzunehmen, auf den Kopf gestellt wurde, stieß diese Idee bei den Kindern und deren Eltern auf große Begeisterung. Alle gaben ihr Bestes, aber die Hauptorganisatorin, Gesangslehrerin, Psychologin und vor allem die treibende Kraft hinter dem Team war Rabbinerin Alina. Sie motivierte, beruhigte und fand in jeder schwierigen Situation eine Lösung. Natürlich konnte das sehr junge Team der Gemeinde, das den Namen „Malachim“ trug und als Neuling an einem so bedeutenden Wettbewerb teilnahm, nicht gleichberechtigt mit „alten Hasen“ der Jewrovision wie den Teams aus München, Köln, Düsseldorf oder Berlin konkurrieren. Dennoch belegten sie Jahr für Jahr gute Plätze und brachten Pokale und Urkunden nach Hause. Dies ist zweifellos das Verdienst von Rabbinerin Alina Treiger, die als Organisatorin, Pädagogin, Chorleiterin und sogar als Choreografin tätig war.

    In Oldenburg gibt es eine interessante und berührende Tradition. Jedes Jahr am 10. November, dem Jahrestag der „Kristallnacht“, findet ein Gedenk- und Bußmarsch entlang des sogenannten „Judenpfades“ (Judengang) statt, dem Weg, den die Nazis 1938 benutzten, um die verhafteten jüdischen Männer unter Bewachung zu führen. Der Marsch führt am Denkmal für alle Opfer des Nationalsozialismus vorbei, das an der Stelle der von den Nazis niedergebrannten und zerstörten Oldenburger Synagoge errichtet wurde. An diesem Ort machen die Teilnehmer des Marsches Halt, legen Kränze und Blumen nieder. In der Regel sind der Oberbürgermeister der Stadt und andere offizielle Vertreter bei der Zeremonie anwesend. Nach jüdischer Tradition nehmen die Juden selbst an diesem Marsch nicht teil, da niemals wieder Juden in Schande durch die Stadt Oldenburg geführt werden sollen. Der Höhepunkt dieser feierlichen Veranstaltung ist der Moment, wenn Rabbinerin Alina Treiger zum Mikrofon tritt und das Totengebet „El male rachamim“ singt. Es scheint, als erhebe sich Alinas schöner, vom Mikrofon verstärkter Gesang in den herbstlichen Himmel und komme von dort auf alle Anwesenden herab. Nach dem Gebet sprechen die Mitglieder der jüdischen Gemeinde das Kaddisch zum Gedenken an die Verstorbenen.

    Im Rahmen der Arbeit an diesem Essay habe ich ein kurzes Interview mit Rabbinerin Alina Treiger geführt. Mich interessierte, wann und warum sie, als Rabbinerin von zwei Gemeinden, dennoch entschied, auch eine Ausbildung zur Kantorin zu beginnen, wie ihr Studium am Kolleg verlief und worin der Unterschied zwischen der Ausbildung zur Kantorin und zur Rabbinerin besteht. Hier ist, was Rabbinerin Treiger mir erzählte:

    „Als die Coronavirus-Pandemie begann, wurden verschiedene Formen des Online-Unterrichts, auch über die Plattform Zoom, weit verbreitet. Da entschied ich mich, es mit einem Fernstudium zu versuchen. Zudem passte es gut zu meinem freien Tag, sodass ich gleichzeitig arbeiten und Kantorin werden konnte. Im Frühjahr 2021 begann ich am Abraham-Geiger-Kolleg das Studium zur Kantorin. Es war meine Berufung, und endlich begann sich mein lang gehegter Traum zu verwirklichen. Ich kenne viele Kantoren, die später Rabbiner wurden, aber ich, als Rabbinerin, entschied, auch Kantorin zu werden. Während des Studiums fand ich alles spannend, seltsamerweise war es jedoch trotz meiner Erfahrung bei öffentlichen Auftritten schwierig, auf die Bühne zu gehen. Am interessantesten war der Meisterkurs mit dem Kantor aus Kanada, Beni Maisner, der uns die Technik des Kantorengesangs beibrachte. Was den Unterschied betrifft, den Sie angesprochen haben, so kann ich es kurz so zusammenfassen: Kantoren lernen, wie man den Inhalt des Gebets stimmlich ausdrückt, während sich Rabbiner ausschließlich mit dem Inhalt des Gebets beschäftigen.“

    Doch es ist an der Zeit, dass wir in die Synagoge in der Berliner Rykestraße zurückkehren, wo die unvergessliche feierliche Zeremonie der Inauguration neuer Rabbiner und Kantoren stattfand. Der Eingang zu dieser Synagoge, die tief im Innenhof liegt, war anlässlich des Festes mit Luftballons geschmückt. Zur Zeremonie versammelten sich mehrere hundert Gäste, darunter Führungskräfte jüdischer Gemeinden, Politiker und Leiter religiöser Organisationen. Die Veranstaltung fand unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen statt, da es am selben Morgen in München zu einem versuchten Terroranschlag gekommen war.

    Für die acht Absolventen des Abraham-Geiger-Kollegs an der Universität Potsdam war dieses Fest der Abschluss einer langen Ausbildungszeit. Für viele andere, die an der Zeremonie teilnahmen, war es eine glückliche Gelegenheit, ehemalige Kommilitonen zu treffen und an ihre Studienzeit zurückzudenken. Die feierliche Ordination eröffnete Boris Ronis, der Gemeinderabbiner der Synagoge in der Rykestraße, der ebenfalls am Abraham-Geiger-Kolleg studiert hatte. In seiner Begrüßungsrede sagte er unter anderem: „Die Tatsache, dass eine neue Generation von Rabbinern und Kantoren hier, in der Synagoge in der Rykestraße, ihre Weihe erhält, ist für mich persönlich ein sehr bewegender Moment und zeugt von einer Erfolgsgeschichte.“ Seiner Aussage nach sei die Inauguration ein „klares Zeichen dafür, dass das jüdische Leben sich weiterentwickelt, trotz der Zunahme antisemitischer Vorfälle“. Interessanterweise hat das Abraham-Geiger-Kolleg seit seiner Gründung vor 25 Jahren mehr als 50 Frauen und Männer ausgebildet, die Rabbiner oder Kantoren geworden sind.

    Der bekannte Klavier-Virtuose Dr. Jascha Nemtsov, Professor für Musiktheorie am Abraham-Geiger-Kolleg, stellte Rabbinerin Alina Treiger den Anwesenden vor und zitierte dabei einen Vers aus dem Buch des Propheten Jesaja: „Siehe, Gott ist mein Heil; ich vertraue auf ihn und fürchte mich nicht; denn der Herr ist meine Stärke und mein Lied, und er ist mir zum Heil geworden“ (Jesaja 12:2). Übrigens ist genau dieser Vers auf dem Schultersaum von Alinas Talit geschrieben. Anschließend legte Dr. Nemtsov ihr einen neuen, wunderschönen Talit über die Schultern, dessen Farbe jeder Geweihte selbst wählen konnte.

    Es hatte etwas Symbolisches, dass das Diplom zur Verleihung des Titels der Kantorin an Alina Treiger sowie ihre Weihe in die Kantorenwürde von Isidoro Abramovich durchgeführt wurden. Isidoro hatte einige Zeit in der Jüdischen Gemeinde Oldenburg als Chorleiter und Gebetsführer gearbeitet, bevor seine Karriere rasch aufstieg. Heute ist er Leiter der Kantorenausbildung am Abraham-Geiger-Kolleg und zugleich Kantor der Synagoge in der Pestalozzistraße in Berlin. Isidoro Abramovich überreichte Alina das Diplom und sprach die traditionelle Formel „Lerne, lerne, singe, singe!“ aus, mit der er Alina Treiger in den Kantorenstand einweihte.

    Jeder Absolvent des Kollegs hatte bei der Zeremonie der Ordination eine kleine besondere Aufgabe. So las Alina Treiger das Priestersegensgebet und einen Abschnitt aus der Tora in ihrer muttersprachlichen ukrainischen Sprache. In der musikalischen Phase der feierlichen Zeremonie sang die Kantorin Alina Treiger zusammen mit dem Kantor aus Russland, Dmitri Karpenko, eindrucksvoll das bekannte Lied „Od Javo Shalom Aleinu“.

    Nach der feierlichen Zeremonie wollten viele der Anwesenden der Rabbinerin, die nun auch Kantorin ist, persönlich zu diesem wunderbaren Fest gratulieren. Die Ordination zog viele Journalisten und Fotografen an, nicht nur aus deutschen, sondern auch aus internationalen Medien, die alle ein Interview mit Alina Treiger führen oder sie für ihre Publikationen fotografieren wollten. Besonders viel Glück hatte Toby Axelrod, ein Korrespondent des in New York ansässigen Jewish Telegraphic Agency (JTA), der es als Erster schaffte, sich an die „Ereignis-Heldin“ heranzuwagen. „Heute bin ich zufrieden und einfach glücklich. Das war mein großer Traum“, sagte Alina Treiger. „Die Rollen von Rabbiner und Kantor ergänzen sich nicht nur, sondern stellen auch eine Verbindung zwischen Verstand, Intellekt und Herz dar.“

    Nach der feierlichen Ordination gab es einen kleinen Empfang, bei dem den Gästen eine Vielzahl von Köstlichkeiten angeboten wurde, die jeden Geschmack trafen.

    „Die Inauguration der Rabbiner und Kantoren ist ein Moment der Freude“, sagte Kantor Isidoro Abramovich. „Alle acht Kandidaten haben ihre Stellen und darauf sind wir sehr stolz. Einige fangen gerade erst an, während andere, wie Alina Treiger, bereits seit vielen Jahren tätig sind.“

    Lassen Sie uns allen, liebe Leser, Glück, Erfolg und Freude bei ihrer Arbeit zum Wohle der jüdischen Gemeinden sowie G-ttes Segen wünschen!

    Autor: Yakub Zair-Bek
    Es wurden Fotos von M. Beilis, aus dem Archiv des Autors und @DerShlikh-DerBote
    verwendet.

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