Dieses Doppelinterview mit Rabbinerin Alina Treiger und Rabbiner Jona Simon wurde erstmals in der Zeitung „Der Bote“ in der Ausgabe Nr. 15(34) für März-April 2017 (Seite 4) veröffentlicht. Link zu der Ausgabe. Auch nach mehr als sieben Jahren hat dieses Interview nichts von seiner Aktualität verloren und ist in einigen Aspekten sogar noch relevanter geworden.
Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Wiederbelebung der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg führte der Korrespondent der Zeitung „Der Bote“ ein Doppelinterview mit dem Rabbinerehepaar Alina Treiger und Jona Simon, in dem verschiedene Aspekte des Lebens unserer Gemeinde angesprochen wurden.
„Der Bote“: Frau Rabbiner Treiger, die erste Frage geht an Sie. In letzter Zeit sind in einer Reihe russischsprachiger (und nicht nur) Medien Artikel und Interviews mit Ihnen erschienen, insbesondere in den Zeitungen „Jüdische Panorama“, „Eynikeyt“ und anderen. Auch die deutsche, englische und portugiesische Wikipedia haben Materialien über Sie veröffentlicht. Womit erklären Sie sich dieses Interesse an Ihrer Person?
Alina Treiger: Ich denke, dieses Interesse bezieht sich in erster Linie darauf, wer ich bin, nämlich die erste Frau, die nach der Shoah in Deutschland zur Rabbinerin ordiniert wurde. Der historische Zusammenhang mit der ersten Rabbinerin in Deutschland, Regina Jonas, die 1944 tragisch in Auschwitz ums Leben kam, verleiht diesem Umstand noch größere Bedeutung. Und erst in zweiter Linie bezieht sich das Interesse auf mich persönlich. Außerdem habe ich während meiner beiden Mutterschaftsurlaube keine Interviews gegeben. Nun, da ich wieder mit der Presse sprechen kann, wurde ich von einer Welle von Anfragen und Fragen überrollt. Ich vermute, dass dieses Interesse aufgrund der Tatsache, dass ich in gewisser Weise „die Erste“ war, immer bestehen wird.
Rabbinerin Alina Treiger:
Ich bin von folgendem Gedanken aus dem Talmud überzeugt: „Liebe den G-tt in den Menschen, die Er nach Seinem Bilde schuf!“. Diese besondere Wertschätzung eines jeden Menschen ist fundamental für das liberale Judentum und intendiert auch die gleichen religiösen und sozialen Rechte für Männer und Frauen…
Und wenn Sie mich danach fragen, worin meine Hauptaufgabe besteht, so lautet die Antwort: „Der weitere Wiederaufbau des jüdischen Lebens in Deutschland“. Ich will, dass die neue Generation der deutschen Juden von Kindesbeinen an weiß, wie die Geschichte des jüdischen Volkes ist und was seine Kultur ausmacht, dass diese neue Generation die jüdische Religion richtig versteht und dadurch die jüdischen Feste auch bewusst feiern kann. Es ist auch sehr wichtig, dass die jungen Juden in der Bundesrepublik Deutschland – einer freien und demokratischen Gesellschaft – davon überzeugt sein können, ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Volk betonen zu dürfen, ohne dabei Angst vor der Wiederholung jener schrecklichen Ereignisse zu haben, welche die ältere Generation erlebt hatte…
Aus der Zeitung «Jüdische Rundschau», №1 (31), Januar 2017 „“Nicht weibliche Sache“ von Alina Treiger“
(Interview von Michael Frenkel mit der Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg)
„Der Bote“: Vor drei Jahren haben wir ein Interview mit Frau Treiger veröffentlicht, in dem die Leser des „Vestnik“ viel Interessantes über ihren außergewöhnlichen Lebensweg erfuhren. Nun richtet sich die Frage an Sie, Herr Rabbiner Simon. Unsere Leser interessieren sich auch für die wichtigsten Stationen Ihres Lebenswegs…
Jona Simon: Ich wurde 1978 in Bielefeld geboren. Ich habe Judentum und Romanistik an den Universitäten von Bielefeld und Sevilla (Spanien) studiert. 2005 begann ich meine Rabbinerausbildung am Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam. Mein einjähriges Praktikum absolvierte ich in Jerusalem, Israel. Die Rabbinatsordination (Smicha) fand 2011 in der Synagoge in Bamberg statt. Derzeit bin ich Rabbiner des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden in Niedersachsen.
„Der Bote“: Nun bitte ich Sie beide, auf meine Fragen zu antworten. Welche Aufgaben stehen Ihrer Meinung nach vor dem erneuerten Vorstand? Was kann noch getan werden, um die Entwicklung unserer Gemeinde voranzutreiben? Was sind die Pläne für die Zukunft?
A.T.: Ich kann nicht für den Vorstand sprechen; diese Frage sollten Sie besser den Vorstandsmitgliedern selbst stellen. Ich kann nur schildern, wie ich mir die Leitung einer Gemeinde vorstelle. Es sollten selbstlose Menschen sein, die bereit sind, natürlich nicht in ihrem eigenen Interesse, sondern im Interesse der gesamten jüdischen Gemeinde zu arbeiten. Sie sollten Kenntnisse in der jüdischen Tradition und im Personalmanagement haben, kurz gesagt, die Fähigkeit besitzen, mit Menschen zu arbeiten und durch Kommunikation Lösungen in verschiedenen Situationen zu finden. Diese Menschen müssen viel Zeit für die Angelegenheiten der Gemeinde aufwenden, denn dies ist ehrenamtliche Arbeit. Aber die Gemeinde muss auch verstehen, dass die Vorstandsmitglieder neben der Gemeindearbeit Familien, Berufe und andere Interessen haben und dass sie das Recht auf Fehler haben, die man anerkennen und an denen man weiterarbeiten muss.
Ich denke, wir sollten uns in dieser Phase mehr auf die Präsentation der Gemeinde in der jüdischen Presse und bei verschiedenen jüdischen Seminaren konzentrieren. Wir haben viel zu zeigen – wie aktiv unsere jüdische Gemeinde ist, attraktiv für Menschen jeden Alters und aus verschiedenen Herkunftsländern. Auf diese Weise können wir neue Mitglieder anziehen. Das ist eine Herausforderung für alle, auch für uns Rabbiner. Ansonsten besteht unser Plan darin, bestehende Initiativen und Projekte zu unterstützen und weiterzuentwickeln.
Da sie genau versteht, dass die Gemeinde ohne Verjüngung und ohne den Zustrom neuer Mitglieder keine Zukunft hat, widmet Rabbinerin Treiger der Arbeit mit Kindern, angefangen im jüngsten Alter, besondere Aufmerksamkeit. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Vorbereitung von Jungen und Mädchen auf die Bar- und Bat-Mizwa. Diese Arbeit führt Alina mit besonderer Sorgfalt, Geduld und Methodik durch, um die heranwachsenden Kinder auf den wichtigen Tag in ihrem Leben – das Erreichen der religiösen Volljährigkeit – vorzubereiten, und dabei zeigt sie hervorragende pädagogische Fähigkeiten.
J.S.: Mir wäre es wichtig, dass die wichtigsten Institutionen unserer Gemeinde gut funktionieren. Dazu gehören vor allem die Chewra Kadischa, die Schule, die Bikkur-Cholim-Gruppe, die Mikwe, Zedaka und Gmilut Chassadim (Spenden und Wohltätigkeit). Die Chewra Kadischa arbeitet bei uns bereits besser als in den meisten Gemeinden in Deutschland. Die Mitglieder der Gemeinde können stolz darauf sein, dass sie in den letzten Jahren viel erreicht haben. Unsere Sonntagsschule befindet sich im Aufschwung. Sie kann jedoch nur gut funktionieren, wenn genügend Kinder und Jugendliche teilnehmen, sowohl in der Vorbereitung auf die Bar- oder Bat-Mizwa als auch danach, um das Gelernte an andere weiterzugeben. Die Bikkur-Cholim-Gruppe befindet sich noch im Entwicklungsprozess, durchläuft aber wie jede „junge“ Initiative die Phasen von Kindheit, Jugend und Reife. Der Wille ist da, aber das allein reicht noch nicht aus.
Spenden und Wohltätigkeit sind das Fundament jeder Gemeinde. Ohne finanzielle Mittel und ehrenamtliches Engagement kann eine Gemeinde nicht bestehen. Obwohl die jüdischen Gemeinden in Deutschland direkt oder indirekt staatliche Unterstützung erhalten, dürfen wir nicht ständig nur die Hand aufhalten.
„Der Bote“: Was möchten Sie unseren LeserInnen noch sagen?
A.T.: In der jüngeren Vergangenheit gab es in der Gemeinde viele Turbulenzen, die dazu führten, dass einige unserer Mitglieder nicht mehr zu uns kommen. Ich möchte mich direkt an sie wenden, falls sie diese Zeitung lesen, sowie an alle Mitglieder unserer Gemeinde. Die jüdische Gemeinde und das jüdische Volk im Allgemeinen sind eine große Familie, die Bnei Yisrael. Natürlich sind wir alle sehr unterschiedlich, und wie in jeder Familie gibt es Konflikte. Doch es gibt etwas, das uns alle vereint, und das ist die Liebe zum Volk Israel. Unbegründeter Hass hat in der Geschichte unseres Volkes bereits viel zerstört. Lassen Sie uns daher nachsichtiger miteinander umgehen, einander Fehler verzeihen und zusammenhalten.
J.S.: Ich bin sehr stolz auf unsere Gemeinde und bewundere das, was in 25 Jahren aus dem Nichts aufgebaut wurde. Ich habe nicht an der Wiederbelebung und am Aufbau der Gemeinde teilgenommen, aber immer, wenn ich mit Juden in Deutschland und auf der ganzen Welt spreche, nenne ich sie als positives Beispiel. Was die Chewra Kadischa betrifft, so wünsche ich mir, dass diese Gruppe mehr Unterstützer und Helfer findet. Natürlich ist es nicht leicht, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, und ich betrachte die Reinigung der Verstorbenen nicht als eine angenehme Aufgabe. Trotzdem ist es die größte Mizwa, die man einem Menschen erweisen kann, indem man ihm zusichert, dass man sich auch nach seinem Tod um ihn kümmert und er nicht vergessen wird. Es ist eine so große Mizwa, weil man dafür keine Dankbarkeit erwarten kann. Eines Tages werden wir alle von der Chewra abhängig sein.
Eine Schule ohne Schüler und Schülerinnen ist keine Schule. Die Statistik unserer Gemeinde zeigt, dass wir viele Kinder und Jugendliche haben, und jedes Mal frage ich mich: Wo verstecken sie sich? Kinder und Enkelkinder sind unsere Zukunft. Ohne sie werden wir keine weiteren 25 Jahre überstehen.
In der jüdischen Tradition gibt es einen besonderen Segen für diejenigen, die Öl für die Beleuchtung, Wein und Speisen für den Kiddusch spenden. Private Spenden, unabhängig davon, ob sie groß oder klein, regelmäßig oder einmalig sind, helfen unserer Gemeinde bei ihrer Entwicklung. Spenden Sie auch! Gemeinsam können wir viel Gutes tun, bedürftigen Mitgliedern der Gemeinde helfen und unsere Gemeinde weiterentwickeln. Machen Sie mit! Werden Sie Teil unserer Gemeinschaft! Haben Sie eine Idee, die Sie mit anderen teilen möchten? Erzählen Sie uns davon! Möchten Sie eine Aktivität vorschlagen? Schlagen Sie sie vor! Möchten Sie etwas lernen? Sagen Sie uns, was genau! Sie sind die Gemeinde, und Sie bestimmen ihre Zukunft! Wenn nicht Sie, wer dann? Wenn nicht jetzt, wann dann?
„Der Bote“: Vielen Dank für das interessante Interview, Frau Treiger und Herr Simon, und unsere aufrichtigen Wünsche für Gesundheit und Erfolg in Ihrer Arbeit zum Wohle der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg.
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Interview geführt von Yakub Zair-Bek
Die verwendeten Fotos stammen aus den Archiven des Autors, Rabbiners J.Simon und Rabbinerin A.Treiger