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Film „Die Stadt ohne Juden“

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    Im Januar 2019 fand in der Tel Aviver Cinemathek die israelische Premiere des Stummfilms „Die Stadt ohne Juden“ statt. Der Film wurde 1924 gedreht und sagte die bevorstehende Katastrophe des europäischen Judentums voraus. „Die Stadt ohne Juden“, unter der Regie des expressionistischen Regisseurs Hans Karl Breslauer, basiert auf dem 1922 erschienenen dystopischen Roman von Hugo Bettauer – eine bittere Satire auf den österreichischen Antisemitismus. Mit einer gewissen Ironie und vermeintlich spielerisch beschreibt das Buch die mythische Vertreibung der Juden aus Wien, doch letztlich stellt sich heraus, dass hier mit erschreckend genauen Details die realen Verfolgungen der Juden und der Holocaust vorhergesagt werden. (Kameramann des Films: Hugo Eywo, Dauer: 80 Minuten.)

    Jahrzehntelang als verschollen gegolten, wurde der Film 2015 zufällig von einem Sammler auf einem Flohmarkt in Paris gefunden und dem österreichischen Nationalen Filmarchiv übergeben – zusammen mit anderen Raritäten der Stummfilmära. Laut Nikolaus Wostry, dem Direktor des Filmarchivs, war „der Filmstreifen zu einer Rolle mit dem Durchmesser eines Bleistifts zusammengerollt“ und sah sehr schlecht aus. Daraufhin begann das Filmarchiv Austria mit einer Spendenaktion und stellte schließlich den Film wieder her: An der Restaurierung arbeitete ein Team von sechs Personen, „Die Stadt ohne Juden“ wurde digitalisiert und zunächst in Wien und dann im ganzen Land gezeigt.

    Als „Die Stadt ohne Juden“ erstmals auf die Leinwand kam, waren es noch vierzehn Jahre bis zum Anschluss Österreichs, und das Land ahnte noch nicht, dass es Teil des „Großdeutschlands“ werden würde. Im Jahr 2018, zum 80. Jahrestag des Anschlusses und anlässlich des 100. Jubiläums der Ersten Republik Österreich, wurde die restaurierte Version des Films im ganzen Land gezeigt und stieß mancherorts auf heftigen Widerstand.

    Die Handlung, die aus dem Roman auf die Leinwand übertragen wurde, erzählt davon, wie in einer fiktiven Utopie alles aus den Fugen gerät. Bemerkenswert ist, dass in dem Buch die Stadt Wien genannt wird, während sie im Film als Utopie bezeichnet wird: Aus Vorsicht wollte der Regisseur keine Auseinandersetzungen mit der Zensur riskieren. Also, wirtschaftliche Krise, die Zahl der Arbeitslosen wächst von Tag zu Tag, das Geld hat seinen Wert verloren. Die regierende Partei findet den üblichen Sündenbock – die Juden. Der Kanzler hält eine geschwollene Rede im Sinne von „Eigentlich sind Juden gute Menschen, ich habe sogar einige jüdische Freunde“, schlägt jedoch gleichzeitig vor, sie alle ausnahmslos auszuweisen. Ein bekannter kapitalistischer Antisemit tritt auf den Plan und gewährt Utopie einen Kredit von 100 Millionen Dollar. Für den Transport der wohlhabenden Juden und ihrer Güter werden dreißig Waggons bestellt, während für die armen Juden der Stadt „Todesmärsche“ vorgesehen sind.

    Nun möchte ich die Erzählung über den Film kurz unterbrechen und uns vorstellen, wie das „jüdische“ Wien zu Beginn des letzten – des 20. – Jahrhunderts aussah. Zu dieser Zeit wuchs die jüdische Bevölkerung Wiens erheblich durch die Einwanderung von Juden aus anderen Teilen des Reiches, insbesondere aus Ungarn, Galizien und der Bukowina (zum Beispiel zogen allein nach 1914 etwa 50.000 Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina nach Wien). Drei der vier österreichischen Nobelpreisträger im Bereich der Medizin waren Juden. Im Jahr 1936 waren mehr als die Hälfte der Ärzte und Zahnärzte in Österreich Juden; mehr als 60 % der Anwälte und eine bedeutende Zahl von Hochschullehrern waren ebenfalls Juden. Viele Juden waren führende Persönlichkeiten der Sozialdemokratischen Partei.

    Die Gemeinde Wiens war die drittgrößte jüdische Gemeinde Europas. Das 1893 in Wien gegründete Rabbinerseminar war eines der größten Zentren für das Studium der jüdischen Literatur und Geschichte in Europa und hatte renommierte Gelehrte und Theologen als Lehrkräfte. Die Wiener jüdische Fußballmannschaft „Hakoah“ und der Sportclub „Maccabi“ waren ebenfalls weithin bekannt. Die führende Zeitung „Neue Freie Presse“, bei der Theodor Herzl mitwirkte, gehörte teilweise Juden.

    Porträt von Theodor Herzl auf dem 10-Schekel-Schein Israel
    Porträt von Theodor Herzl auf dem 10-Schekel-Schein, Israel

    In Wien lebten viele jüdische Wissenschaftler, Schriftsteller und Komponisten, die weltweite Anerkennung erhielten, darunter die Schriftsteller Stefan Zweig und Franz Kafka, die Komponisten, der König der Operette Imre Kálmán und Gustav Mahler, der berühmte Wissenschaftler und Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud, der bekannte Theologe Martin Buber und andere. Wien wurde auch zu einem wichtigen Zentrum des Zionismus, obwohl die Zionisten bis 1932 keine Mehrheit in der Führung der jüdischen Gemeinde hatten. Bis 1938 wuchs die jüdische Bevölkerung Wiens auf 185.000 Menschen an. Vor dem Anschluss gab es in Wien neben den Hauptsynagogen noch 40 kleinere Synagogen und Minjanim.

    Aber kehren wir zum Film „Die Stadt ohne Juden“ zurück und schauen uns einige Szenen aus diesem Film an. Zwischentitel, die zu Memes wurden: „Verjagt die Juden, rettet Utopien!“ – Protestaktionen gegen die vermeintliche „Übermacht“ der Juden in Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst. In wessen Händen befindet sich die Presse? In jüdischen! Wer bewegt Milliarden? Ein Jude! Schlägt die Juden: Juden werden auf der Straße verprügelt.

    Der Kanzler schmiedet Pläne zur Deportation, indem er methodisch sechszackige Sterne in die Ränder des Erlasses zeichnet. Wenn ein Jude versucht, heimlich in der Stadt zu bleiben, erwartet ihn der Tod. Mitglieder der jüdischen Gemeinde verlassen die Stadt in der Dämmerung und tragen Torahrollen mit sich. Die übrigen Juden werden in überfüllten Waggons ins Nirgendwo transportiert. Offensichtlich war Bettauer sich seines prophetischen Charakters bewusst, da sein Buch den vollständigen Titel „Die Stadt ohne Juden: Ein Roman über das Übermorgen“ trug.

    Nachdem die Juden vertrieben wurden, scheint Utopien zunächst frei durchzuatmen. Doch weit gefehlt. Die jüdischen Fabrikanten produzieren keine Waren mehr, die jüdischen Verleger bringen keine Zeitungen heraus, die jüdischen Regisseure inszenieren keine Theaterstücke, die jüdischen Schneider nähen keine modische Kleidung. Die Stadt verarmt, das kulturelle Leben verfällt, und die einst glanzvolle Hauptstadt verwandelt sich in ein trostloses Provinznest. Der Strom jüdischer Touristen versiegt, da sie Utopien meiden. Nun stimmt das Parlament dafür, die Juden zurückzuholen. Im Epilog des Films begrüßen Regierung und Volk den ersten jüdischen Rückkehrer stürmisch, obwohl ein Happy End schwer zu erkennen ist.

    Im Jahr 1924 verursachte „Die Stadt ohne Juden“ solch einen Aufschrei, dass Hugo Bettauer, ein erfolgreicher österreichischer Schriftsteller und Journalist jüdischer Abstammung, kurz nach der Veröffentlichung des Films von einem Nazi-Fanatiker erschossen wurde. Der Regisseur Hans Karl Breslauer überlebte, drehte jedoch nie wieder einen Film. Darüber hinaus distanzierte er sich von seinem Werk und trat der NSDAP bei. Dem folgte der Hauptdarsteller Johannes Riemann. Er spielte Leo Strakosch, einen jüdischen Künstler, der unter dem Deckmantel eines Franzosen in die Stadt zurückkehrt, um sich mit seiner arischen Freundin zu treffen und gegen das Deportationsgesetz zu kämpfen. In Wirklichkeit nahm das Schicksal des Schauspielers jedoch eine völlig andere Wendung: Riemann machte eine bemerkenswerte Karriere in der Nazi-Partei und unterhielt während des Zweiten Weltkriegs unter anderem die Lagerwachen in Auschwitz bei Unterhaltungsabenden.

    Interessanterweise wurde gerade im Jahr 1924, als der Film zum ersten Mal in den Wiener Kinos gezeigt wurde, saß Hitler in der Landsberger Gefängnis nach seinem gescheiterten Versuch des Staatsstreichs, dem „Bierkellerputsch“. Dort schrieb er den Großteil seines Buches „Mein Kampf“. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Bettauers Roman ihn zu einigen Gedanken angeregt hat. Im Jahr 1941 wurde aufgrund seiner Ideen die Drehbuchautorin des Films „Die Stadt ohne Juden“, Ida Jenbach, aus Wien ins Minsker Ghetto deportiert, wo sie zwei Jahre später starb.

    Heute gilt der Film als einer der bedeutendsten österreichischen Filme der Zwischenkriegszeit und als das erste filmische Dokument, das sich gegen Antisemitismus richtet. Wie bereits erwähnt wurde die restaurierte Version des Films vor fünf Jahren Anfang Januar 2019 in der Tel Aviver Cinematheque mit einer „Live“-Musikbegleitung aufgeführt: der israelische Ensemble „21st Century Ensemble“ trat als Begleitung auf. Was die Partitur selbst betrifft, inspirierte Hugo Bettauers geniale Vorahnung zur Schaffung eines neuen Werkes eines der originellsten zeitgenössischen österreichischen Komponisten, Olga Neuwirth. Dies geschah nach der Entdeckung des seltenen Filmmaterials, und die Premiere des Musikstücks fand gleichzeitig mit der ersten Filmvorführung im November 2018 statt. Olga plante sogar, zur Premiere zu kommen – das letzte Mal war sie als 18-jähriges Mädchen in Israel, auf der Suche nach ihren Wurzeln. Aber dieses Mal hat es nicht geklappt.

    Olga Neuwirth ist jüdischer Abstammung, ihre Familie überlebte den Holocaust in Österreich, indem sie ihre jüdische Identität verbarg und sogar ihren Nachnamen ändern musste. Übrigens behauptet sie, dass Antisemitismus im genetischen Code des österreichischen Volkes verwurzelt sei. Vor der Premiere des Films in London gab Olga der Zeitung The Guardian ein ausführliches Interview, in dem sie betonte, dass dieser Film auch heute noch aktuell sei, leider. Es ist kein Zufall, dass Neonazis die Aufführung von „Die Stadt ohne Juden“ in Linz gestört haben.

    „Wir konnten das 100-jährige Jubiläum der Ersten Republik nicht feiern, ohne das Thema des Antisemitismus anzusprechen“, sagte der Direktor des österreichischen Nationalen Filmarchivs, Dr. Nikolaus Wostry. „Die Juden waren immer die loyalsten Bürger Österreichs und haben einen enormen Beitrag zu seiner Entwicklung geleistet, während die Österreicher dies ausnutzten und die Juden zu ewigen Sündenböcken machten. Deshalb betrachten wir diesen Film als politische Erklärung angesichts des wachsenden Antisemitismus im heutigen Europa.“

    Im Gegensatz zum Buch von Bettauer endet der Film „Die Stadt ohne Juden“ mit einer Szene, in der ein ehemaliger antisemitischer Berater, der aus seinem betrunkenen Rausch erwacht, erleichtert seufzt: „Gott sei Dank, dieser lächerliche Traum ist vorbei.“ Es ist bedauerlich, dass das wirkliche Leben im Gegensatz zum Film selten ein Happy End bietet.

    Die Erfahrungen der Verfolgung von Juden, die die Nazis ab 1933 in Deutschland gesammelt hatten, wurden unmittelbar nach dem Anschluss Österreichs an das Dritte Reich im Jahr 1938 angewandt. In der „Kristallnacht“ (9.-10. November 1938) wurden in Wien 42 Synagogen zerstört, Hunderte von Juden getötet, Tausende verhaftet, jüdische Geschäfte und Wohnungen geplündert und später konfisziert. Das Jüdische Museum wurde 1938 geschlossen und seine Exponate von den Nazis konfisziert. Es begann eine gewaltsame Emigration (legal und illegal) unter dem systematischen Druck der von Adolf Eichmann speziell organisierten Zentralstelle für Jüdische Auswanderung, infolge derer etwa 100.000 von den 185.000 Juden Wiens (rund 10% der Stadtbevölkerung) vor Beginn des Zweiten Weltkriegs emigrierten; etwa 18.000 von ihnen wurden später in anderen europäischen Ländern gefangen genommen. Nach Kriegsbeginn gelang es weiteren 18.500 Juden, Wien zu verlassen, bevor die Auswanderung im Herbst 1941 verboten wurde. Zwischen 1939 und 1942 wurden die meisten verbliebenen Juden Wiens in Konzentrationslager deportiert. Etwa 800 Juden blieben illegal in Wien zurück.

    Autor: Yakub Zair-Bek, unter Verwendung von Materialien aus der jüdischen Presse (Fotos aus dem Archiv des Autors und Wikipedia)

    Anmerkung der Redaktion @DerBote-DerShlikh: Den gesamten Film können Sie über den YouTube-Link ansehen

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