Jüdische Namen auf der Karte von Oldenburg
Kapitel 6. Das Mädchen aus Amsterdam – Anne Frank

Das tragische Schicksal der jüdischen Amsterdamerin Anne Frank ist vielen bekannt. Ebenso bekannt ist ihr berühmtes Tagebuch, das in 67 Sprachen übersetzt wurde und der Welt eine der tragischsten Seiten der modernen Geschichte berichtete: den Holocaust. Das Tagebuch der Anne Frank, Monografien und zahlreiche Artikel zu diesem Thema sind weltweit in vielen Auflagen erschienen. In diesen Veröffentlichungen geht es unter anderem darum, wie im August 1944 das Versteck, das Anne „das Hinterhaus“ nannte, durch den Verrat eines Informanten der Gestapo entdeckt wurde. Alle Bewohner wurden verhaftet und in Konzentrationslager deportiert. Über all diese Ereignisse sind die Leserinnen und Leser unserer Webseite vermutlich informiert. Über Annes Aufenthalt in den nationalsozialistischen Lagern war jedoch über viele Jahrzehnte nahezu nichts bekannt, abgesehen von der Tatsache, dass sie und ihre ältere Schwester Margot im Konzentrationslager Bergen-Belsen starben, das sich auf dem Gebiet des heutigen Niedersachsens befindet. Deshalb möchte ich von den letzten Monaten im Leben Anne Franks berichten – eines der bekanntesten Opfer des Nationalsozialismus.

Anne Frank Франк ©commons.wikimedia.org

Als der Dokumentarfilm „Die letzten sieben Monate der Anne Frank“, der von ihrem Leben nach der Verhaftung erzählt, im niederländischen Fernsehen gezeigt wurde, wirkte er wie eine regelrechte Informationsbombe. In den Film wurden Interviews mit mehreren ehemaligen KZ-Häftlingen aufgenommen, die Anne persönlich gekannt hatten. Aus ihren Berichten ergibt sich ein tragisches Bild vom allmählichen Verlöschen eines 15-jährigen Mädchens infolge von Zwangsarbeit, Hunger und Infektionskrankheiten. Als das Haus, in dem sich die Familie Frank versteckt hielt, von der niederländischen Polizei und der Gestapo durchsucht wurde, fanden die Beamten hinter einem Bücherschrank eine Tür, hinter der sich acht Menschen 25 Monate lang verborgen gehalten hatten.

Denkmal für Anne Frank in Amsterdam in der Nähe des Hauses, in dem sich das Versteck befand ©commons.wikimedia.org

Familie Frank bei einem Spaziergang in Amsterdam, 1941 ©commons.wikimedia.org

Kenotaph für Anne und Margot Frank auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen ©commons.wikimedia.org

Die Verhafteten wurden vier Tage lang im Gefängnis festgehalten und anschließend in das niederländische Durchgangslager Westerbork deportiert. Dort wurden sie dem „Strafkommando“ zugewiesen und zu schwersten Arbeiten eingesetzt. Am 3. September 1944 wurden sie mit dem letzten Transport, der niederländische Juden in diese nationalsozialistische Todesfabrik brachte, nach Auschwitz deportiert. Bei der Ankunft in Auschwitz wurden Anne, ihre Mutter und ihre Schwester gewaltsam vom Vater getrennt. Alle wurden der Selektion durch Dr. Josef Mengele unterzogen, der darüber entschied, wer in das Lager eingeliefert wurde. Die Hälfte der Ankommenden – darunter alle Kinder unter fünfzehn Jahren – wurde direkt in die Gaskammern geschickt. Anne hatte „Glück“: Sie war bereits einige Monate zuvor fünfzehn geworden. Edith, die Mutter von Margot und Anne, sowie beide Mädchen wurden in den Block Nr. 29 eingewiesen. Ronnie Goldstein, eine der Holocaust-Überlebenden, die in dem niederländischen Dokumentarfilm interviewt wurden, berichtete, dass sie die Familie Frank erstmals im Lager Westerbork kennengelernt habe. Später trafen sie sich auch in Auschwitz wieder. Einige Wochen nach ihrer Ankunft im Lager erkrankte Anne an Krätzmilbenbefall. „Das Mädchen sah schrecklich aus, ihr ganzer Körper war von Geschwüren bedeckt. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide“, erinnerte sich Ronnie. Am 30. Oktober 1944, als die Rote Armee bereits in der Nähe des Lagers stand, führte Mengele im Frauenlager Auschwitz-Birkenau eine weitere Selektion durch. Anne und Margot wurden von Edith getrennt und gemeinsam mit 634 Frauen in das Lager Bergen-Belsen bei Hannover überstellt. Edith Frank, die in Auschwitz zurückblieb, starb Anfang 1945 an Entkräftung. In Bergen-Belsen gab es zwar keine Gaskammern, doch zwischen 1943 und 1945 starben dort etwa 50.000 Häftlinge, mehr als 35.000 davon an Fleckfieber. „Der Typhus war die schlimmste Plage von Bergen-Belsen“, erinnert sich Rachel Ammerongen-Frankfoorder, die ebenfalls in Westerbork mit den Schwestern Frank Bekanntschaft gemacht hatte. „Anne und Margot litten jedoch nicht nur an Typhus, sondern auch an Hunger und Kälte. Sie hatten die schlechtesten Plätze im Block erwischt – im Durchzug, direkt an der Eingangstür. Ich war Zeugin, wie die Schwestern nach und nach starben.“ Am ausführlichsten berichtete Janny Brandes-Brilleslijper, die das Lager überlebte, über die letzten Tage der Schwestern Frank: „Ich erinnere mich an Anne kurz vor ihrem Tod. Sie stand vor mir, in eine Decke gehüllt. Sie konnte die Lagerkleidung nicht tragen, da sie wimmelte nur so von Läusen und Flöhen. Es war Winter, und außer dieser Decke hatte sie nichts am Körper. Ich sammelte einige Sachen zusammen und gab sie Anne, damit sie sich wenigstens etwas wärmen konnte.“ In Bergen-Belsen begegnete Anne Frank zwei ihrer Freundinnen wieder: Hannah Goslar und Nanette Blitz. Nanette war eine Schulfreundin von Anne; sie hatten gemeinsam das jüdische Lyzeum in Amsterdam besucht. Hannah und Nanette beschrieben Anne aus dieser Zeit als ausgemergelt, zitternd und fast völlig kahl. „Als ich sie zum letzten Mal sah“, erzählte Nanette, „war sie sehr schwach, nur noch Haut und Knochen, in eine Decke gewickelt … Wir erkannten einander kaum wieder und konnten nur wenige Worte wechseln.“ Margot sahen sie nie, denn sie war so krank, dass sie das Bett nicht mehr verlassen konnte. Anne sagte ihren Freundinnen, sie glaube, dass ihre Eltern gestorben seien, weshalb sie keinen Lebenswillen mehr verspüre. Die Schwestern Janny und Lien Brilleslijper, die sich bereits in Westerbork mit Margot und Anne angefreundet hatten, erinnerten sich daran, dass Margot kurz vor ihrem Tod völlig entkräftet von der Pritsche auf den Zementboden gefallen war und bewusstlos liegen geblieben war. Doch niemand hatte mehr die Kraft, sie aufzuheben. Anne hatte hohes Fieber und Hautausschläge und sprach häufig im Delirium. Beide Schwestern zeigten deutliche Symptome des Fleckfiebers. Margot starb Anfang März 1945, danach verlor Anne endgültig den Willen zum Weiterleben. Einige Tage später fanden Lien und Janny ihren Platz auf der Pritsche leer. Anne lag außerhalb des Blocks. Mit letzter Kraft schleppten Lien und Janny ihren Körper zur Massengrabstelle, wohin sie zuvor auch Margot gebracht hatten. Die Schwestern Frank starben nur wenige Wochen vor der Befreiung des Lagers durch die britische Armee am 15. April 1945; ihre genauen Todesdaten und Begräbnisorte sind unbekannt. Zur Eindämmung der Typhus-Epidemie beschlossen die britischen Behörden, alle Baracken und Gebäude des Lagers zu verbrennen.

Otto Frank, der Vater von Anne ©commons.wikimedia.org

Nanette Blitz, die den Holocaust überlebte, erinnerte sich später: „Anne war ein lebensfrohes Mädchen. Sie liebte es, zu reden, und Jungen gefielen ihr. Wenn sie am Leben geblieben wäre, bin ich sicher, sie wäre eine großartige Schriftstellerin geworden.“ Nanette wusste von Annes Tagebuch: „Manchmal gelang es uns, uns im Lager Nr. 7 in Bergen-Belsen zu treffen. Anne erzählte mir von ihrem Tagebuch und sagte, dass sie es als Grundlage für ein Buch verwenden wolle, in dem sie berichten wollte, was wir durchmachten.“

Otto Frank, der Vater von Anne und Margot, war das einzige Mitglied der Familie Frank, das die nationalsozialistischen Lager überlebte. Nach dem Krieg kehrte er nach Amsterdam zurück, wo man ihm das von Freunden gerettete Tagebuch seiner Tochter Anne übergab. Ursprünglich hatte er nicht vor, das Tagebuch zu veröffentlichen, doch später entschloss er sich dazu – bewegt durch die Bitten und Ratschläge von Freunden.

Das Tagebuch der Anne Frank hat eine lange und vielfältige Publikationsgeschichte in vielen Ländern und Sprachen. Erstmals erschien es 1947 in den Niederlanden unter dem Titel Het Achterhuis („Das Hinterhaus“/„Das Versteck“). In den USA und Großbritannien wurde das Buch 1952 unter dem Titel The Diary of a Young Girl („Das Tagebuch eines Mädchens“) veröffentlicht und erlangte daraufhin rasch weltweite Bekanntheit. Die russische Übersetzung von Rina Wright-Kovaljowa mit einem Vorwort von Ilja Ehrenburg erschien erstmals 1960. Die erste deutsche Übersetzung erschien 1950, allerdings in einer gekürzten Ausgabe. Besonders große Verbreitung fand später die stark beachtete Edition von 1988, die vom Verlag Fischer herausgegeben wurde und durch ihr Titelbild mit dem roten Tagebuch leicht wiederzuerkennen ist.

Umschläge verschiedener Ausgaben des „Tagebuchs“ in unterschiedlichen Sprachen ©Anne Frank Fonds, Basel

Im Jahr 1948 leitete die Amsterdamer Polizei ein Verfahren zur Ermittlung des Verräters ein. Dieser hatte der Gestapo den Aufenthaltsort der Untergetauchten verraten. Den Polizeiberichten zufolge existierte diese Person, doch ihr Name war nicht bekannt. Festgestellt wurde lediglich, dass sie für jeden ausgelieferten Juden eine Belohnung von siebeneinhalb Gulden erhalten hatte. Da sich Otto Frank weigerte, an der Untersuchung teilzunehmen, wurde das Verfahren eingestellt, jedoch 1963 wieder aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Tagebuch bereits weltweite Bekanntheit erlangt und es gab Forderungen von allen Seiten, den Verräter zu finden und zu bestrafen, durch dessen Schuld unschuldige Menschen ums Leben gekommen waren. Bis heute wurde jedoch aufgrund fehlender gewichtiger Beweise niemand wegen Denunziation verurteilt. Bemerkenswert ist, dass das Niederländische Institut für Kriegsdokumentation im Jahr 2003, also nahezu 60 Jahre nach den Ereignissen, eine letzte Untersuchung durchführte. Die Experten kamen zu dem Schluss, dass die Verdächtigen unschuldig sind. Höchstwahrscheinlich wird der Verräter niemals gefunden, denn heute leben keine Zeugen dieser Ereignisse mehr.

Das Tagebuch der Anne Frank ©commons.wikimedia.org

Miep Gies war die letzte noch lebende Beteiligte und starb im Jahr 2010, kurz vor ihrem 101. Geburtstag. Sie hatte das Tagebuch im Versteck gefunden und nach dem Krieg Annes Vater übergeben. Dieser starb 1980 in der Schweiz und vermachte das Original dem Niederländischen Institut für Kriegsdokumentation. Das Institut führte umfangreiche Untersuchungen durch und stellte durch verschiedene Gutachten die unzweifelhafte Authentizität des Tagebuchs sowie Annes Autorschaft fest. Damit wurde ein endgültiger Schlussstrich unter die „Diskussion” mit Pamphletisten und Holocaustleugnern gezogen, die das Tagebuch fälschlicherweise als Fälschung bezeichnet hatten.

Das Tagebuch der jüdischen Jugendlichen Anne Frank ist eines der bekanntesten und eindrucksvollsten Dokumente über die Gräueltaten der Nationalsozialisten. Es ist ein bedeutendes Zeugnis der Katastrophe des europäischen Judentums und hat ihren Namen weltweit berühmt gemacht. In vielen Städten Europas und darüber hinaus sind Straßen, Schulen und andere Einrichtungen nach Anne Frank benannt. Zu ihren Ehren wurden Briefmarken herausgegeben und Denkmäler errichtet. Zudem existiert das Anne-Frank-Haus bzw. das Anne-Frank-Museum.

Briefmarke der Bundesrepublik Deutschland mit dem Porträt von Anne Frank (Foto aus der philatelistischen Sammlung des Autors)

Anna-Frank-Platz ©Stadtmuseum Oldenburg

Die Internationale Astronomische Union hat den Namen „Anne Frank” sowohl einem Asteroiden als auch einem Krater auf der Venus verliehen. Auch in Oldenburg gibt es ein Objekt, das diesen Namen trägt. Im Jahr 2015 wurde einer der Plätze im Oldenburger Stadtteil Donnerschwee, auf dem sich ein großer Kinderspielplatz befindet, in „Anne-Frank-Platz” umbenannt.

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Autor: Yakub Zair-Bek
Fotos aus dem Archiv des Autors und aus offenen Quellen