Rosch ha-Schana in Bremerhaven

Unweit der Mündung der Weser in die Nordsee liegt die gemütliche Stadt Bremerhaven. Sie ist ein wichtiger deutscher Seehafen für den Containerverkehr und ein bedeutendes Industriezentrum für den Automobilbau. Bremerhaven ist für seine Seefahrtsgeschichte bekannt und beherbergt mehrere bemerkenswerte Museen, Sehenswürdigkeiten und historische Stätten, die mit der Seefahrt und dem Schiffsverkehr in Verbindung stehen. Dazu gehört das interessante Deutsche Auswandererhaus, ein Museum, das die Geschichte der Auswanderung von Millionen Menschen erzählt. Unter ihnen waren auch Juden, die Europa verließen, um in der Neuen Welt ihr Glück zu suchen. Ebenfalls sehenswert ist das Meeresmuseum, das der Geschichte der Schifffahrt und Seefahrt gewidmet ist. Ebenfalls sehenswert ist das einzigartige interaktive Klimamuseum, in dem Besucher verschiedene Klimazonen aus aller Welt kennenlernen können. Nicht zu vergessen sind der bemerkenswerte Zoo und die wunderschönen Neubauten, die der Stadt ein unverwechselbares Aussehen verleihen.
Am Abend des 22. Septembers dieses Jahres besuchten jedoch mehrere Mitglieder der Liberalen Jüdischen Gemeinde Oldenburg Bremerhaven – keineswegs, um sich mit den Sehenswürdigkeiten der Stadt vertraut zu machen. Wir waren auf Einladung von Mircea Ionescu gekommen. Der Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Bremerhaven hatte uns in seine Stadt eingeladen, um uns seine Gemeinde vorzustellen und damit wir gemeinsam mit ihnen am Abendgottesdienst zum jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana teilnehmen konnten.
Die Strecke von Oldenburg nach Bremerhaven beträgt nur etwa 70 Kilometer. Unsere Fahrt über zwei Autobahnen und eine Bundesstraße dauerte lediglich eine Stunde. Bald erreichen wir den Bremerhavener Stadtteil Geestemünde. Unser Orientierungspunkt ist eine evangelisch-lutherische Kirche. Warum ausgerechnet eine christliche Kirche unser Orientierungspunkt ist, wird weiter unten erläutert. Während wir auf dem Parkplatz parkten, kam aus einem kleinen, zweistöckigen Backsteinhaus in der Nähe ein imposanter, grauhaariger Mann mit sympathischem Bart und Schnurrbart. Er begrüßte uns mit einem breiten Lächeln. Das war der Vorsitzende Mircea Ionescu. Wir stellten uns vor, woraufhin er uns einlud, das Haus zu betreten. Wie sich herausstellte, gehört das gesamte Gebäude einer der Kirchen Bremerhavens. Die jüdische Gemeinde Bremerhaven hat jedoch die Erlaubnis, es an Samstagen und großen jüdischen Feiertagen zu nutzen. An diesen Tagen wird der Konferenzsaal der Kirche in einen Gebetsraum verwandelt, der gleichzeitig als Kiddusch-Raum genutzt werden kann. Es gibt auch eine kleine Küche, die die Gemeinde auch nutzt. Nach den Gemeindeveranstaltungen werden alle mitgebrachten Geräte, Gebetsbücher, Geschirr usw. weggeräumt, sodass der Saal wieder für seinen eigentlichen Zweck genutzt wird.

Die über drei Meter hohe Chanukkia ist einzigartig und die erste, die in Europa im öffentlichen Raum fest installiert wurde. Sie steht in der Bremerhavener Fußgängerzone. Errichtet wurde sie von der Menorah-Gemeinde.

Mircea gab uns einen kurzen Überblick über die Geschichte und die aktuelle Situation der im Jahr 2016 gegründeten Gemeinde „Menora – Liberale Jüdische Gemeinde Bremen/Bremerhaven e. V.“. Sie versteht sich als liberal und folgt den 35 Grundsätzen des liberalen Judentums, die von der Union progressiver Juden formuliert wurden. Seit Januar 2021 ist die Gemeinde Mitglied der Union progressiver Juden in Deutschland (UpJ). Sie beantragt regelmäßig beim Kulturamt Bremerhaven die Finanzierung von Projekten aus dem Fördertopf „Kulturelle Ziele“ und nutzt die erhaltenen Mittel für die Organisation verschiedener Veranstaltungen. Darüber hinaus führen das Kulturamt und die Gemeinde „Menora” gemeinsame Veranstaltungen wie Lesungen und die „Lange Nacht der Kultur” durch. In seiner Resolution vom 5. Juli 2022 hat der Stadtrat von Bremerhaven beschlossen, dass alle jüdischen Gemeinden im Land Bremen künftig staatliche Fördermittel im Rahmen eines Staatsvertrags erhalten sollen.
Inzwischen hat die Uhr am Glockenturm der Kirche sechs Mal geschlagen, und Mircea lädt die Gemeindemitglieder und Gäste zum Gottesdienst im Gebetsraum ein. Beim Betreten des Saals fällt die sehr bescheidene, sogar asketische Einrichtung sofort auf: zwei bis drei Reihen gewöhnlicher Stühle, die amphitheaterförmig angeordnet sind, ein einfacher Tisch anstelle einer Bima, die fehlende Bundeslade (Aron Kodesh) sowie die fast leeren Wände. Zur Eröffnung des Gottesdienstes hielt der Vorsitzende der Gemeinde, Mircea Ionescu, eine kurze Begrüßungsrede. Er betonte, dass die Gemeinde unter den Herausforderungen der Zeit ins neue Jahr 5786 nach dem jüdischen Kalender eintritt. Hat sich die jüdische Gemeinde in Bremerhaven im vergangenen Jahr beispielsweise erfolgreich genug entwickelt? Wie kann das jüdische Leben in Bremerhaven noch sichtbarer gemacht werden? Hat sich die Situation für Juden in Deutschland in letzter Zeit verändert? Wie sicher ist das Leben der Juden in der Stadt heute, insbesondere nach den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 und dem weltweiten Anstieg des Antisemitismus? Abschließend gratulierte er allen Anwesenden zu Rosch ha-Schana und übergab die Bima an Rabbinerin Helene Braun.
Ein paar Worte zu Helene selbst: Sie ist in Hannover geboren und aufgewachsen, lebt derzeit in Berlin und absolviert ihre Ausbildung zur Rabbinerin am Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam. Somit steht sie kurz vor ihrem Ausbildungsabschluss. Gleichzeitig bereitet sie sich auf ein Masterstudium der Judaistik an derselben Universität vor. Von 2015 bis 2019 war sie aktive Leiterin der reformjüdischen Jugendbewegung „Netzer Deutschland“. Gemäß einer Vereinbarung mit der Liberalen Jüdischen Gemeinde Bremerhaven führt sie im Jahr 2025 abwechselnd mit der Rabbinerstudentin Alisa Bach Gottesdienste in dieser Gemeinde.


Obwohl Helene noch keine Smicha hatte, erfüllte sie reibungslos alle Pflichten und Rituale, die für die Feier von Rosch ha-Schana gemäß der jüdischen Tradition üblich sind – vom Anzünden der Kerzen bis zum Kiddusch. Beim Anzünden der Festkerzen, das von einem Mitglied der Gemeinde vorgenommen wurde, sprach Rabbinerin Braun zwei Segenssprüche: einen für das Anzünden der Kerzen und einen, in dem sie Gott dafür dankte, dass er uns das Leben geschenkt hat und uns die Möglichkeit gibt, dieses Fest zu erleben. Das gesamte Abendgebet leitete Rabbinerin Braun ohne Unterbrechungen von Anfang bis Ende. Am Ende des Abendgebets zu Rosch ha-Schana sollte eigentlich der Aron Kodesh geöffnet werden, was jedoch aus dem oben genannten Grund nicht möglich war. Dennoch wiederholte die gesamte Gemeinde hinter der Rabbinerin das Lied Davids: „Dem Herrn gehört die Erde und alles, was darauf ist …”. Ein wichtiges Attribut der Rosch-Ha-Schana-Feierlichkeiten ist das Blasen des Schofars während des Synagogengottesdienstes. Diese Handlung wird als Aufruf zum göttlichen Gericht und als Aufruf zur Buße interpretiert. Der Vorsitzende der Gemeinde, Mircea Ionescu, vollzog diesen Ritus auf wunderbare Weise. Nach dem Gebet gratulierten sich alle gegenseitig: „Möge es Gottes Wille sein, dass ihr für ein glückliches Jahr in das Buch des Lebens eingetragen werdet und dass diese Eintragung mit einem Siegel besiegelt wird!”
Ein wichtiger Bestandteil der Rosch-ha-Schana-Feierlichkeiten ist das gemeinsame Abendessen. Der Gebetsraum wurde schnell in einen Kiddusch-Raum umgewandelt. Auf dem langen Tisch wurden nacheinander Festtagsgerichte, Vorspeisen sowie Flaschen mit koscherem Wein und Saft aufgestellt. Der Gemeindevorsitzender und der Rabbiner eröffneten den Kiddusch mit drei Segenssprüchen und wünschten allen ein frohes neues Jahr: „Shana tova umetukah! Lechaim!” Anschließend schnitt Rabbinerin Helene Braun die festliche Challah an.



Die Gastgeber haben sich viel Mühe gegeben, um alle Anwesenden gebührend zu bewirten. Ich kann nicht widerstehen und verrate den Lesern, was es an diesem festlichen Abend zu essen gab. Auf dem Festtagstisch standen selbstverständlich Teller mit geschnittenen Äpfeln sowie Gläser mit Honig. Hala und in Honig getauchte Äpfel sind nämlich Symbole von Rosch ha-Schana. Außerdem gab es verschiedene Salate, im Ofen gebackenen roten Fisch, Nüsse, frisches Gemüse, Granatäpfel und Zimes. Letzteres ist ein traditionelles Gericht der jüdischen Küche, das aus geschmorten Karotten, Trockenfrüchten, Honig und Gewürzen besteht. Zimes wird in der Regel speziell zu Rosch ha-Schana zubereitet. Dabei symbolisieren die Karottenringe Goldmünzen und stehen für den Wunsch nach Wohlstand.
Besonders beeindruckt hat mich die freundliche, heimelige und sehr herzliche Atmosphäre, die während des gesamten Festabends herrschte. Wir verließen die liberale Gemeinde Bremerhaven mit einem Gefühl der Dankbarkeit gegenüber ihrem Vorsitzenden Mircea Ionescu, seinen Assistenten und Rabbinerin Helene Braun. Wir danken ihnen für die Einladung in ihr gastfreundliches Haus, den wunderschönen Gottesdienst und den Kiddusch. Ich bin mir sicher, dass wir diese wunderbaren Menschen noch oft wiedersehen werden.
Autor: Yakub Zair-Bek
Fotos aus dem Archiv des Autors und von @DerShlikh-DerBote