Und wieder Zwinger: Kino und Leben

Poster zum Film „Fünf Tage, fünf Nächte“
Poster zum Film „Fünf Tage, fünf Nächte“

Im Jahr 1960 kam der Spielfilm „Fünf Tage, fünf Nächte“ des Regisseurs Leo Arnstam in die Kinos – eine Koproduktion der Filmstudios Mosfilm und DEFA (DDR). Er erzählt die Geschichte von Hauptmann Leonow von der Roten Armee, der im Mai 1945 die von den Nazis versteckten Meisterwerke der Dresdner Galerie aufspürte, darunter auch die berühmte „Sixtinische Madonna“ von Raffael. Die Rolle des Offiziers Leonow wurde von dem bekannten Schauspieler Wsewolod Safonow gespielt. Das Drehbuch basierte auf dem 1958 veröffentlichten autobiografischen Buch „Sieben Tage“ von Leonid Wolynski (Literaturpseudonym von Leonid Rabinowitsch). Die Handlung des Buches und des Films dürfte den Leserinnen und Lesern unserer Website gut bekannt sein – sowohl aus den Originalquellen als auch aus Veröffentlichungen in den Medien, insbesondere im Internet, in denen ausführlich über alle Wendungen dieser Geschichte berichtet wurde. Diese Veröffentlichungen basierten auf den damals bekannten Fakten und Materialien.

Vor relativ kurzer Zeit ist im Moskauer Verlag „Corpus“ der Roman Zwinger erschienen. Seine Autorin ist die in Italien lebende Übersetzerin und Schriftstellerin Elena Kostjukowitsch. In diesem Buch werden viele Episoden der Geschichte aus einer neuen Perspektive betrachtet, gestützt auf zuvor unbekannte Fakten und Dokumente. Obwohl es sich bei „Zwinger“ um ein literarisches Werk handelt, beruht es doch auf wahren Begebenheiten aus der Geschichte der Familie der Autorin, denn Elena ist die leibliche Enkelin von Leonid Naumowitsch Rabinowitsch. Sie stützte sich dabei nicht nur auf bislang unveröffentlichte Dokumente, sondern auch auf die Erzählungen ihres Großvaters. Darüber hinaus beleuchtete die Schriftstellerin in mehreren Interviews, die sie nach Erscheinen des Romans gab, einige Aspekte, die im Buch selbst keinen Platz fanden.

Cover des Buches "Zwinger"
Cover des Buches „Zwinger

Autorin des Romans Elena Kostjukowitsch
Autorin des Romans Elena Kostjukowitsch

Der Kriminalroman „Zwinger“ enthält alles, was dieses Genre ausmacht: eine spannende Handlung, Liebe, Blut und ein Rätsel. Zugleich enthält er auch familienchronikalische Elemente, die mit bedeutenden historischen Ereignissen im Zusammenhang mit der Weltkultur verknüpft sind. Eine der Hauptfiguren des Romans, Leutnant Zhaluski, ist nach Elenas Großvater, dem Kiewer Leonid Rabinowitsch, benannt. Dabei könnte die Frage aufkommen: Was fügt dieser Roman unserem Wissen über die Geschichte der Suche nach dieser berühmten Sammlung hinzu, das über die bereits bekannten Fakten über die Rettung der Gemälde der Dresdner Galerie hinausgeht?

Auf diese Frage antwortete Elena Kostjukowitsch folgendermaßen:
„Ich habe Dokumente, die nach dem Tod meines Großvaters erhalten geblieben sind. Sie lagen in Kisten und Schubladen. Ich habe sie nach Mailand gebracht und das Archiv aufgearbeitet. Heute kann ich sagen, dass es mehrere Dokumente gibt, die in den wissenschaftlichen Umlauf eingeführt werden sollten – und das werden sie auch, denn ich stehe mit Wissenschaftlern in Kontakt, die sich mit dem Schicksal der Gemälde aus deutschen Sammlungen befassen. Ich besitze einen Bericht meines Großvaters, den er unmittelbar nach dem Krieg an das ZK der KPdSU (B) schrieb. Und dann – das ist das Erstaunlichste – habe ich einen zweiten Bericht an das ZK gefunden, der aus dem Jahr 1955 stammt. Damals wurde beschlossen, die Gemälde zurückzugeben. Ich denke, damals wurde der Befehl erteilt – obwohl ich keine gesicherten Informationen habe, um das mit Bestimmtheit zu sagen –, dass mein Großvater die Geschichte neu aufschreiben, sie offiziell verfassen und in Buchform einreichen sollte.“

Autorin des Romans Elena Kostjukowitsch

Bericht an das Zentralkomitee der Allunionskommunistischen Partei (Bolschewiki), 1945

Auf dem beigefügten Foto ist eine Kopie der Titelseite des ersten Berichts von Leonid Rabinowitsch an Georgi Alexandrow, den Leiter der Abteilung für Agitation und Propaganda des ZK der KPdSU (B), zu sehen. Hier ein Auszug aus dem Dokument:

„…Am 8. Mai 1945, nach Beendigung der Kämpfe, beschloss ich, das Gelände des Zwingers zu besuchen. Als ich die durch die Bombardierung der anglo-amerikanischen Luftwaffe zerstörten Ruinen des Zwingers sah, interessierte ich mich für das Schicksal der sich früher darin befindlichen Kunstwerke. Eine genaue Untersuchung der Ruinen und der erhalten gebliebenen Gebäudeteile führte mich zu dem Schluss, dass sich zum Zeitpunkt der Bombardierung keine Exponate mehr in den Museumsgebäuden befanden. Im Bewusstsein der großen Bedeutung, diese Kulturgüter vor jeglichen Zufällen zu bewahren, beschloss ich, ihren Verbleib und ihr Schicksal zu ermitteln. Zu diesem Zweck wollte ich jemanden aus dem früheren Museumspersonal finden, um irgendeine Spur für die Nachforschungen zu erhalten. Noch am selben Tag gelang es mir, den ehemaligen wissenschaftlichen Leiter des Skulpturenmuseums ‚Albertinum‘, Dr. Ragna Enking, ausfindig zu machen …“

Diese Notiz wurde unmittelbar im Anschluss an die Ereignisse verfasst. Der jüngere Technik-Leutnant Rabinowitsch schildert darin die gesamte Geschichte Punkt für Punkt, wie es sich für einen Militärangehörigen gehört: von Beginn der Schatzsuche über die Übergabe der Gemälde an die eilends nach Dresden entsandten Restauratoren bis hin zur Begleitung des Militärzugs mit diesen Kunstwerken bis nach Moskau. Der zweite Bericht, der zehn Jahre nach dem ersten verfasst wurde, unterscheidet sich dadurch, dass alles, was darin geschildert wird, bereits in ein propagandistisches Schema gegossen ist. Während im ersten Bericht noch das Wort „ich“ verwendet wurde – „ich übernahm die Leitung“, „ich entschied“, „ich verlegte die Soldaten dorthin“, „ich gab den Befehl, das Bergwerk zu entminen“ –, wurde im zweiten Bericht aus dem „ich“ ein „wir“, also die Rote Armee: „Wir handelten“, „Auf Befehl des Kommandos, persönlich von Marschall Konew, nahm ich die Suche auf …“

Dresden nach der Bombardierung, 1945
Dresden nach der Bombardierung, 1945

Leiterin des Albertinum Museums Ragna Enking
Leiterin des Albertinum Museums Ragna Enking

Interessant ist, dass selbst Marschall Konew in seinen späteren Memoiren schrieb, die Nachforschungen seien eine eigenmächtige Initiative des jungen Leutnants gewesen und keine militärische Operation zur Bergung von Beutegut. Aus dem zweiten Bericht geht deutlich hervor, dass Leonid Rabinowitsch verstand, was die Behörden von ihm erwarteten. Daher ist diese Notiz im Grunde bereits ein literarisches „Werk” und kein historisches Dokument mehr.
All dies wurde später in dem Buch „Sieben Tage” von Leonid Wolynski dargestellt und anschließend in einem Film umgesetzt – teilweise mit dem Ziel, die Idee der ewigen Freundschaft zwischen der DDR und der UdSSR zu demonstrieren. In diesem Film werden die Beziehungen der Deutschen zur Roten Armee und zu den alliierten Truppen im Mai 1945, also unmittelbar nach der Besetzung Deutschlands, auf unaufrichtige und kitschig-geschönte Weise dargestellt.

In diesem Zusammenhang ist das von Elena Kostjukowitsch entdeckte Memoirenmanuskript von Ragna Enking von unbestreitbarem Interesse. Enking war die in Rabinowitschs Bericht erwähnte Kustodin der Skulpturensammlung. Überlassen wir das Wort Elena selbst: „Ich las diese Memoiren und entdeckte darin meinen Großvater. Ich erkannte, dass Ragna ganz eindeutig in ihn verliebt war. Ob mein Großvater ihre Gefühle erwiderte, weiß ich nicht, aber zweifellos gab es eine Geschichte zwischen ihnen. Sie half ihm, jene ‚stumme Karte‘ zu finden, anhand derer die Suche durchgeführt wurde – wie in Abenteuergeschichten von Dumas, Jules Verne oder Edgar Allan Poe.“ Es stellt sich heraus, dass man diese Karte heute noch sehen kann. In Sachsen, in der Nähe der Uranerzminen, wo es einst Kriegsgefangenenlager gab, befindet sich in einem der verlassenen Stollen ein kleines Museum. Dort hängt eine Kopie jener Karte, die den Verlauf der Elbe und geheimnisvolle Markierungen zeigt. Genau in diesem Stollen hatten die Nazis die Kisten mit den Gemälden versteckt. Diese waren in grobes Sackleinen eingewickelt. Da Wasser in den Schacht eingedrungen war und die Kisten nicht luftdicht verschlossen waren, waren die Gemälde, als sie von Rabinowitschs Einheit gefunden wurden, bereits teilweise beschädigt. Außerdem war alles vermint. Heute kann man im Museum diese zerbrochenen Kisten mit verrottetem Sackleinen und verrosteten Nägeln besichtigen.

Für seine Heldentat bei der Suche und Entdeckung der Schätze der Dresdner Galerie wurde der junge Leutnant Rabinowitsch nicht etwa für den Titel „Held” vorgeschlagen, was seiner Leistung entsprochen hätte, sondern lediglich für die Auszeichnung mit dem Orden „Roter Stern”. Doch selbst diese Auszeichnung erhielt er nicht: In einer der Instanzen des Vorschlagsverfahrens, in irgendeinem Stab, entschied man, dass dem Juden Rabinowitsch auch die Medaille „Für militärische Verdienste” genügen würde. Dies war übrigens die einzige Auszeichnung für Leonid, der sich freiwillig an die Front gemeldet hatte und den gesamten Krieg durchgestanden hatte.

"Die stille Karte" mit Erklärungen von L. Rabinowitsch
„Die stille Karte“ mit Erklärungen von L. Rabinowitsch

Jr. Technischer Leutnant L.N. Rabinowitsch
Jr. Technischer Leutnant L.N. Rabinowitsch

Спаситель картин Дрезденской галереи Л.Н.Рабинович вернулся с Победой в родной Киев, в котором в годы оккупации погибли его родители. После войны Леонид занялся литературной деятельностью. Так и стал ветеран Отечественной войны, художник Леонид Рабинович писателем Леонидом Волынским. Он написал не одну книгу о войне, но главная из них – «Семь дней», ведь она о главном деле его жизни — спасении шедевров Дрезденской галереи. Книга «Семь дней» выдержала три издания, по ней был снят уже упомянутый фильм. В Киеве, на доме №23 по улице М.Васильковская, в котором долгое время жил Л.Н.Рабинович, нет мемориальной доски. Почему? Разве у Киева, у Украины так много людей, кто достоин памяти в масштабах всего человечества?

L. N. Rabinowitsch, der Retter der Gemälde der Dresdner Galerie, kehrte nach dem Sieg in seine Heimatstadt Kiew zurück – in eine Stadt, in der seine Eltern während der Besatzungszeit ums Leben gekommen waren. Nach dem Krieg widmete sich Leonid der literarischen Arbeit. So wurde aus dem Kriegsveteranen und Künstler Leonid Rabinowitsch der Schriftsteller Leonid Wolynski. Er schrieb mehrere Bücher über den Krieg, doch das wichtigste unter ihnen ist „Sieben Tage“, denn darin beschreibt er die zentrale Tat seines Lebens: die Rettung der Meisterwerke der Dresdner Galerie. Das Buch erlebte drei Auflagen und auf seiner Grundlage wurde der bereits erwähnte Film gedreht. In Kiew, im Haus Nr. 23 in der M.-Wassilkowskaja-Straße, in dem L. N. Rabinowitsch lange Zeit lebte, gibt es keine Gedenktafel. Warum? Gibt es in Kiew oder in der Ukraine so viele Menschen, die im Maßstab der gesamten Menschheit des Gedenkens würdig sind?

Kurz gesagt: Diese alte Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt. Vielleicht erwarten uns noch weitere Enthüllungen. So ist das eben – wie im Kino …

Autor: Yakub Zair-Bek (Fotos aus dem Archiv des Autors)