Das Relais der Generationen
Im Essay „Die jüdische Gemeinde in der Flora-Neumann-Straße“, das kürzlich auf unserer Website veröffentlicht wurde, habe ich den Lesern bereits kurz von der dramatischen Geschichte der liberalen jüdischen Gemeinde Hamburgs erzählt, über ihren schwierigen Weg der Wiederbelebung nach fast 70 Jahren, die seit ihrer Zerstörung in der berüchtigten Reichspogromnacht im November 1938 vergangen sind. Dennoch war es dank der Aktivisten und wahren Enthusiasten ihrer Sache, wie Galina Zharkova, die ohne Rücksicht auf Zeit viel Kraft und Energie in die Wiederbelebung der Gemeinde investierten, möglich, die Gemeinde aus dem Vergessen zurückzuholen und ihre Weiterentwicklung voranzutreiben. Als Erbin und Fortführerin des Werks der historischen liberalen Gemeinde Hamburgs, die bereits 1817 gegründet wurde, führt die heutige Gemeinde in ihren Dokumenten die Bezeichnung „Israelitischer Tempelverband zu Hamburg“ (ITVHH).
Am Freitagnachmittag, dem 6. Dezember 2024, kurz vor Schabbat, an einem für den Winter untypisch ungemütlichen Tag, machte sich unsere kleine Gruppe von Mitgliedern der liberalen jüdischen Gemeinde Oldenburg auf den Weg. Unter Regenschirmen Schutz suchend vor dem Nieselregen und in warme Jacken gehüllt, um uns gegen die kalten Winde von der Elbe zu schützen, gingen wir zu Fuß vom Hauptbahnhof in Richtung Flora-Neumann-Straße, gelegen in einem der zentralen Viertel Hamburgs. Unser Ziel war es, an einer außergewöhnlichen Veranstaltung teilzunehmen, die an diesem Tag im ITVHH stattfand. Und tatsächlich, die Veranstaltung war etwas ganz Besonderes.
Wie ich bereits im vorherigen Essay angekündigt habe, sollte an diesem Tag die feierliche Einführung der neuen Landesrabbinerin der liberalen Jüdischen Gemeinde Hamburgs, Alina Treiger, stattfinden, verbunden mit einem Abschied vom bisherigen Amtsinhaber, Rabbiner Dr. Edward van Voolen. Es stand ein symbolischer Generationswechsel bevor, eine Art Staffelübergabe vom 76-jährigen Rabbiner van Voolen an die 45-jährige Alina Treiger. Rabbinerin Treiger ist unseren Lesern bereits gut bekannt. In letzter Zeit hat sie sich zu einer echten „Newsmakerin“ im jüdischen Leben Deutschlands entwickelt, und ihr Name ist regelmäßig in den Schlagzeilen von Zeitungen und Internetseiten zu finden – oft in Verbindung mit dem Wort „erste“.
Der Gebetssaal der liberalen jüdischen Gemeinde Hamburgs war bestens auf die Durchführung dieses besonderen Festakts vorbereitet. Alles trug zu einer feierlichen Stimmung bei.Punkt 18 Uhr trat die erste Vorsitzende des ITVHH, Galina Zharkova, ans Mikrofon und hielt im Namen der Gemeinde eine kurze Begrüßungsrede. Anschließend verlas der zweite Vorsitzende der Gemeinde, Eike Steinig, ein Grußwort des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz. Ehrengast der Veranstaltung war Irit Michelson, die Vorsitzende des Zentralrats der progressiven Juden in Deutschland. In ihrer Ansprache betonte sie die Bedeutung der Entwicklung des liberalen Judentums im Land insgesamt und insbesondere in der nordwestlichen Region.
Eine Grußbotschaft der World Union for Progressive Judaism (WUPJ), die vom Präsidenten des Verbands, Rabbiner Sergio Bergman, in englischer Sprache übermittelt wurde, wurde per Videoverbindung aus dem Regionalbüro der WUPJ in New York abgespielt. Aufgrund der Zeitverschiebung wurde die Botschaft im Voraus aufgezeichnet.
Anschließend sangen alle Anwesenden im Saal das beliebte Lied „Hine Ma Tov U’Ma Na’im“. Der Text dieses Liedes stammt aus dem 133. Psalm: „Siehe, wie gut und angenehm es ist, wenn Brüder in Eintracht beisammen sind.“
Im gemeinsamen Chor der Stimmen aller Teilnehmer stach natürlich die außergewöhnliche Stimme von Rabbinerin und Kantorin Alina Treiger hervor.
Nach dem Anzünden der Schabbatkerzen fand die Kabbalat Schabbat statt, die Vorbereitung auf das feierliche Willkommen des Schabbats, ein Teil der traditionellen jüdischen Liturgie, der dem Abendgottesdienst am Schabbat vorausgeht. Dieser wurde abwechselnd von Rabbiner van Voolen und Rabbinerin Treiger wunderschön zelebriert. Beide Rabbiner präsentierten meisterhaft verschiedene Aspekte der wöchentlichen Toraparasha in ihren Draschen.
Doch das besonders bewegende und einzigartige Ereignis des gesamten Schabbat-Geschehens war die offizielle Amtsübergabe, nachdem der Aron Kodesch (die Bundeslade) geöffnet und die Torarolle entnommen worden war. Der vorherige Landesrabbiner, Dr. van Voolen, übergab feierlich das Amt an die neue Landesrabbinerin Hamburgs.
Edward van Voolen übergab Alina Treiger die Torarolle und segnete sie. Es war ein unvergesslicher Moment, und ich bemerkte, dass in den Augen mancher Anwesenden im Gebetssaal der Synagoge Tränen standen. Nach dem Schließen des Aron Kodesch zeigte Alina noch mehrfach ihre hervorragenden kantorialen Fähigkeiten, indem sie synagogale Musik darbot und die Versammelten mit ihrer bezaubernden Stimme beeindruckte.
Während des anschließenden Kiddusch, der an hohen Tischen mit weißen Tischdecken abgehalten wurde, wurden die Gäste mit Gerichten lokaler Köche verwöhnt. Dabei war der hohe Grad der Anerkennung und Unterstützung für Rabbinerin Alina Treiger vonseiten der Mitglieder und Gäste der liberalen Gemeinde deutlich zu spüren. In den wenigen Monaten seit ihrem Wechsel zur Hamburger Gemeinde hat sie erneut brillant bewiesen, dass sie sich hervorragend anpassen und leicht eine gemeinsame Sprache mit Menschen aller Altersgruppen, Sprachgemeinschaften und Kulturen finden kann. Der Umstand, dass Rabbinerin und Kantorin Alina Treiger in kürzester Zeit in der Gemeinde verdiente Anerkennung und positive Beurteilung ihrer Arbeit erhalten hat, ist ein deutliches Zeichen dafür.
Zusammenfassend möchte ich sagen, dass die Feier in der Synagoge in der Flora-Neumann-Straße wirklich sehr festlich, bedeutend, lebendig und emotional war. Die Unterstützung für Rabbinerin Treiger war nicht nur von den Gemeindemitgliedern und der Gemeindeleitung spürbar, sondern auch von den eingeladenen Gästen. Es herrschte die Atmosphäre eines großen Festes, was dieses Ereignis auch tatsächlich war. Alina Treiger selbst strahlte vor Glück, und dieses Gefühl übertrug sich auf alle Anwesenden.
Und dennoch wollte ich unbedingt die Eindrücke von diesem Fest aus der Perspektive von Alina selbst erfahren. Zunächst habe ich sie jedoch herzlich und von ganzem Herzen zu ihrer Ernennung zur liberalen Landesrabbinerin von Hamburg gratuliert, und danach bat ich sie um ein kurzes Interview, dem Rabbinerin Alina Treiger gerne zustimmte. Als sie mit mir sprach, brach ihre Stimme manchmal, und man konnte die Tränen in ihrem Ton hören, die von Aufregung, Freude und Gefühlen zeugten. Das hat sie mir erzählt:
„Für mich war das alles sehr berührend und sehr festlich. In gewisser Weise war es sogar ein Gefühl der Bewunderung für alles, was in diesem Saal geschah. Die gesamte Atmosphäre war wunderbar, aufrichtig, freundschaftlich, warm, und ich bin stolz darauf, welche Menschen zu diesem Fest gekommen sind, um mir nicht nur von Herzen zu gratulieren und mir alles Gute zu wünschen, sondern auch, um mich, die Gemeinde und die liberale Bewegung in Hamburg zu unterstützen. Der gesamte Kabbalat Schabbat war großartig, seine Atmosphäre war sehr musikalisch und inspirierend. Rabbiner van Voolen sprach sehr herzliche Worte, besonders beeindruckt hat mich der Teil seiner Rede, als er sagte, dass er mein Lehrer und Mentor sei und dass dies auch für ihn sehr wichtig sei. Es war ein außergewöhnlich bewegender Moment, als Rabbiner van Voolen an dieser Stelle sogar weinte – eine sehr starke, aufrichtige Emotion. Übrigens standen auch mir die Tränen in den Augen. In meiner kurzen Rede zur wöchentlichen Toraparasha versuchte ich, sie mit der Hoffnung der liberalen Gemeinde Hamburg zu verbinden, eine eigene Synagoge zu bauen oder einen geeigneten Raum zu finden, in dem wir echte Gastgeber wären und einen gleichberechtigten Platz neben der orthodoxen Gemeinde der Stadt einnehmen könnten.
Alles, was an diesem Tag im Israelitischen Tempelverband geschah, erfüllte mich mit diesen Hoffnungen, es war emotional und zugleich würdevoll. Daher denke ich, dass alle zufrieden waren. Viele Mitglieder der Gemeinde kamen zu mir und sagten, dass sie so etwas in ihrem Leben noch nie gefühlt oder gehört hatten.
So habe ich zum ersten Mal nach dem Holocaust das Gebet ‚Der Allmächtige hat geherrscht‘ – ‚Adonai Malach‘. gesungen, das vom Kantor der vor dem Krieg bestehenden liberalen Gemeinde Hamburgs, Leon Kornitzer, geschrieben wurde. Dieser Moment war ebenfalls sehr emotional, weil die Menschen noch nie gehört hatten, dass man auch so beten kann. Sie dankten mir, und ich hoffe sehr, dass sie zu den Gottesdiensten kommen werden, dass die Gemeinde wächst und sich entwickelt. Und ich als Rabbinerin werde mich dort vollständig entfalten können. Und ein wenig Nachdenken ‚in Klammern‘. Also genau das, was mir in letzter Zeit in der Gemeinde Oldenburg nicht ermöglicht wurde – dort eine Atmosphäre von Freundlichkeit, Respekt, Vertrauen und Liebe zu schaffen. Aber diese ‚Klammern‘ sind jetzt eigentlich nicht mehr so wichtig…“
Vielen Dank, Frau Rabbiner, für Ihre emotionale Erzählung! Es ist deutlich zu spüren, dass Geschichte direkt vor unseren Augen geschrieben wird. Zum ersten Mal in Deutschland und in Hamburg hat eine Frau das Amt der Landesrabbinerin übernommen. Gleichzeitig fand eine Art „Staffelübergabe“ statt, und es schien, als würde junge Energie in die Sache des liberalen Judentums einfließen.
Ich möchte von ganzem Herzen Landesrabbinerin und Kantorin Alina Treiger vor allem Gesundheit wünschen sowie neue kreative Erfolge zum Wohle des Israelitischen Tempelverbands Hamburg und des gesamten liberalen Judentums im Land Hamburg.
Ich bin sicher, dass sich die Leser unserer Website diesen warmen Wünschen gerne anschließen werden.
Mazal Tov und Be-Hatzlacha, liebe Alina!
Autor: Yakub Zair-Bek
Fotos wurden aus dem Archiv des Autors und von @DerShlikh-DerBote verwendet