„Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen…“



Diese Zeilen aus dem Gedicht der sowjetischen Dichterin Olga Bergholz, die auf einer Stele des Gedenkfriedhofs Piskarjowskoje in Petersburg eingraviert sind, sind in Deutschland wenig bekannt. Doch „die Asche von Klaas“ klopft an die Herzen aller ehrlichen Menschen: Die Zahl der jüdischen Opfer, die während des Nationalsozialismus vernichtet wurden, geht in die Millionen… In einem ausführlichen Artikel „Echo des Holocaust“, der im Mai 2024 auf unserer Website veröffentlicht wurde, habe ich kurz von einer ungewöhnlichen Grabstätte auf dem Alten Jüdischen Friedhof in der niedersächsischen Stadt Oldenburg im Norden Deutschlands berichtet. Diese Geschichte ist so ungewöhnlich, so bewegend, dass sie ausführlicher erzählt werden muss, zumal sie in letzter Zeit ihre Fortsetzung gefunden hat. Aber alles der Reihe nach…

Trauerhalle auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Oldenburg
Trauerhalle auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Oldenburg

Vor sechs Jahren, im Jahr 2018, wandte sich der damalige Verwaltungsleiter des Oldenburger Staatstheaters, Herr T. Pröllochs, mit einer unerwarteten Bitte an die Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg, Alina Treiger. Er berichtete ihr, dass die Mitarbeiter der Perückenabteilung des Theaters ihn gebeten hätten, eine Angelegenheit zu klären, die sich während einer Inventur ihrer Ausrüstung und Requisiten ergeben hatte. Dabei war eine kleine Holzkiste mit menschlichen Haaren entdeckt worden, die möglicherweise zur Herstellung neuer oder zur Restaurierung beschädigter Perücken und Bärte verwendet werden konnten. Es konnten keine Dokumente über die Herkunft dieser Haare gefunden werden, aber es gab den schrecklichen Verdacht, dass sie KZ-Häftlingen, Opfern des nationalsozialistischen Regimes, gehört haben könnten. Dieser Verdacht beruhte auf den Erinnerungen einer ehemaligen Theatermitarbeiterin, die diese Geschichte vor ihrem Ruhestand an ihre Nachfolgerin weitergegeben hatte. Auch wenn sie sich nicht sicher waren, ob diese Haare tatsächlich den Opfern des Nationalsozialismus gehörten, verursachte allein die Möglichkeit dieses Ursprungs im Theater großen Schrecken und das Bedürfnis, eine angemessene Lösung zu finden.

Ящик с человеческими волосами, обнаруженный в театре
Holzkiste mit Menschenhaar im Theater entdeckt

Infolgedessen wandte sich eine Gruppe von Theatermitarbeitern, die verstanden, dass es unmöglich war, diese Haare für Bühnenzwecke zu verwenden, an die Jüdische Gemeinde Oldenburg und bat um Hilfe durch ihre langjährige Rabbinerin Alina Treiger.

In der Gemeinde wurde beschlossen, das Andenken an die Opfer des Nationalsozialismus zu verewigen – an Menschen, deren Eigentum, alles, was ihnen gehörte, und ihr Leben in den grausamen Todeslagern erbarmungslos genommen wurden – jedoch auf symbolische Weise. Dieses Vorhaben sollte zeigen, dass die heutige Generation der Bürger Deutschlands die unbequemen Fragen der Geschichte nicht ignorieren wird, sondern im Gegenteil bestrebt ist, den Opfern des Nationalsozialismus Respekt und Gedenken zu zollen.

Da keine dokumentarischen Beweise erhalten geblieben sind, ist es unmöglich festzustellen, zumindest annähernd, aus welchem Konzentrationslager diese Haare stammten und ob sie Juden oder Nichtjuden gehörten. Doch das spielt keine Rolle: Wichtig ist allein die Tatsache, dass diese Menschen, wer auch immer sie waren, Opfer des nationalsozialistischen Regimes wurden.

Als Ort für die Beisetzung dieser Haare wurde der Alte Jüdische Friedhof in Oldenburg gewählt. Es wurde beschlossen, kein separates Grab anzulegen, sondern diese Beisetzung zwischen den jüdischen Gräbern und dem Massengrab von 56 Kriegsopfern (siehe Artikel „Echo des Holocaust“) zu platzieren, um so eine mögliche Verbindung zu beiden Gruppen zu betonen.

Nach der Tradition, die sich in der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg etabliert hat, besuchen die Gemeindemitglieder an einem der Tage zwischen den Feiertagen Rosch ha-Schana und Jom Kippur die Gräber ihrer Vorfahren (auf Hebräisch „Kever Avot“). So geschah es am 16. September 2018 während eines solchen „Kever Avot“, das von Rabbinerin Aline Treiger in der Trauerhalle auf dem Alten Jüdischen Friedhof abgehalten wurde, etwas Ungewöhnliches. Den Anwesenden wurden zwei Mitarbeiterinnen des Staatstheaters Oldenburg, Frau K. Weller und Frau I. Hoberg, vorgestellt, die der Gemeinde die vom Herrn Pröllochs erwähnte Kiste aus dem Theaterfundus mit den darin befindlichen menschlichen Haaren übergaben. Anschließend wurde gemeinsam mit einem Minjan aus Gemeindemitgliedern und den Theatermitarbeiterinnen an der Friedhofsmauer eine kleine Trauerzeremonie und ein Gebet abgehalten, bei der die Kiste mit den Haaren der Opfer in die Erde gegeben wurde. Rabbinerin Aline Treiger erinnerte alle an die Schrecken des Holocausts und ehrte das Andenken der Opfer. Es wurde zudem beschlossen, dass die Grabstätte der Überreste der Opfer der nationalsozialistischen Diktatur mit einer Gedenktafel versehen wird.

Es vergingen einige Jahre… Mit der Zeit überwucherten Büsche und Gras den Ort der Beisetzung der Kiste, sodass Rabbinerin Treiger schließlich daran erinnern musste, wo sich dieser Ort befand. Inmitten des hektischen Alltags und der Ereignisse, insbesondere im Zusammenhang mit der Aufnahme und Unterbringung jüdischer Flüchtlinge aus der Ukraine, die vor dem Krieg, den Putins Russland in Europa entfesselt hat, flüchteten, blieb die Frage nach der Errichtung einer Gedenktafel am Ort der Beisetzung lange Zeit ungelöst. Außerdem wurde die ursprüngliche Idee, eine solche Tafel an der Ziegelmauer des Friedhofs anzubringen, verworfen, da die Friedhofsmauer als Gedenkstätte unter staatlichem Schutz steht. Daher entschied man, einen Gedenkstein zu gestalten, der sowohl der jüdischen Tradition entsprach als auch diese besondere Grabstätte kennzeichnete. Ein ernstes Problem war jedoch das Fehlen einer Finanzierungsquelle für dieses kleine Denkmal. Als es schien, dass die Lösung in eine Sackgasse geraten war, fanden sich zwei engagierte Menschen, ein Ehepaar aus Oldenburg, Elena Ljubarova und Pavel Goldvarg, die die Initiative ergriffen, den Stein auswählten, in Auftrag gaben und auf eigene Kosten am Ort der Beisetzung aufstellten. Die Installation des Gedenksteins an der Friedhofsmauer wurde auf den Gedenktag für Gefallene und Opfer des Terrors, den Trauertag (Jom haSikaron), der am 4. Ijar nach dem jüdischen Kalender begangen wird (in diesem Jahr fiel er auf den 13. Mai), abgestimmt.

Auf dem grauen Stein mit roten Einsprengseln, die das Blut der unschuldigen Opfer symbolisieren, steht eine Inschrift auf Deutsch und Hebräisch: „Hier ruhen die menschlichen Haare von Opfern des nationalsozialistischen Regimes.“ Dieser Text wurde in Zusammenarbeit mit dem Verband der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen abgestimmt. Der Stein hat an den Rändern unregelmäßige Kanten, was die zerbrochenen Leben der Holocaust-Opfer symbolisiert, deren Haare unter diesem Gedenkstein beigesetzt sind. Nach der Aufstellung des Steins sprach Rabbinerin Alina Treiger ein Totengebet.

Памятный камень в честь жертв нацистского режима, установлен 13 мая 2024
Gedenkstein zu Ehren der Opfer des NS-Regimes, errichtet am 13. Mai 2024.

Sowohl Elena als auch Pavel haben eine tragische Familiengeschichte im Zusammenhang mit dem Holocaust. Elenas Großtante und ihre gesamte Familie aus Witebsk, Belarus, wurden während der Shoah getötet. Pavels Urgroßmutter aus Tiraspol, Moldawien, wurde von rumänischen Faschisten gefangen genommen und an ihrem Zopf aufgehängt. Drei Tage später wurde sie von nichtjüdischen Bauern gerettet, doch die traumatischen Erlebnisse hinterließen bei ihr lebenslange psychische Schäden.

Die würdevolle Eröffnung dieses kleinen Denkmals auf dem Alten Jüdischen Friedhof fand am Sonntag, dem 18. August 2024, statt. Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, ihre Freunde und Gäste versammelten sich in der Trauerhalle, um der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungen zu gedenken. Rabbinerin Alina Treiger hielt eine kurze Ansprache, in der sie unter anderem sagte: „Heute sind wir hier versammelt, um der Erinnerung an all jene zu gedenken, deren Schicksal in den dunklen Zeiten des Nationalsozialismus grausam unterbrochen wurde. Indem wir diesen Stein errichten, erinnern wir nicht nur an die Vergangenheit, sondern bekennen auch unsere Verantwortung für die Zukunft – dass kein Opfer vergessen wird und wir die Erinnerung gegen Gleichgültigkeit und Vergessen wahren werden. Dieser Stein ist ein Symbol dafür, dass selbst die Spuren menschlicher Tragödie unsere Aufmerksamkeit und unseren Respekt verlangen. Möge dieser Ort eine Erinnerung an diejenigen sein, die angeblich kein Recht auf ihre eigene Vergangenheit hatten, aber in unseren Herzen weiterleben…“.

Gesamtansicht der Bestattungshalle, 18. August 2024

Раввин Алина Трейгер рассказывает историю о найденных человеческих волосах
Rabbinerin Alina Treiger erzählt die Geschichte von gefundenen Menschenhaaren

Раввин Алина Трейгер на траурной церемонии 18 августа 2024 г.
Rabbinerin Alina Treiger bei der Trauerfeier am 18. August 2024

Am Ende ihrer Rede sagte Rabbinerin Alina Treiger mit Bitterkeit und Tränen in den Augen: „Heute vollziehe ich eine der letzten Amtshandlungen in meinem Dienst als Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg und weihe diesen Gedenkstein als Symbol des Kampfes gegen Gleichgültigkeit, als Zeichen gegen das Vergessen und als Zeugnis des guten Willens der Mitglieder unserer Gemeinde und der Mitarbeiter des Oldenburger Staatstheaters.“ Bemerkenswerte Worte!

Rabbinerin Alina Treiger stellt den Anwesenden Pavel Goldvarg vor, einen der Sponsoren der Installation des Gedenksteins, 18. August 2024.

Раввин Алина Трейгер произносит молитву «Эль мале рахамим»
Rabbi Alina Treiger spricht das Gebet „El Male Rachamim“

Steinchen ​​– zum Fuß des Gedenksteines, 18. August 2024

Anschließend gingen alle Anwesenden der Trauerzeremonie zum Ort der Steininstallation und beteten gemeinsam mit der Rabbinerin das Gebet „El Male Rachamim“, um das Andenken an alle Opfer des nationalsozialistischen Regimes zu ehren. Nach jüdischem Brauch wurden kleine Steinchen zum Fuß des Gedenksteines gelegt.

Autor: Yakub Zair-Bek (Foto von Mikhail Beilis und aus dem Archiv des Autors)